Vitamin B12
Tierische Produkte haben zwar grundsätzlich kein Monopol auf einzelne Nährstoffe und man kann alle essenziellen Nährstoffe, die in tierischen Produkten vorkommen, auch über Pflanzen aufnehmen, aber Vitamin B12 nimmt in diesem Kontext gewissermaßen eine Sonderrolle ein. Daher nennt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE)
Vitamin B12 zu Recht als kritischsten Nährstoff bei veganer Ernährung.
Wie Untersuchungen zeigen, ist es zwar nicht unmöglich, B12 aus pflanzlichen Lebensmitteln zu erhalten, aber unter den aktuellen Rahmenbedingungen stehen den meisten Menschen diese noch nicht zur Verfügung. Daher greifen vegan lebende Menschen vereinfachend auf ein Nahrungsergänzungsmittel mit B12 zurück. Dieser Umstand sollte aber nicht dazu führen, dass man eine vegane Ernährung vorschnell ablehnt oder als unnatürlich abstempelt. Im Kontext dieses Kapitels wird deutlich werden, dass eine Nahrungsergänzung mit B12 keineswegs ein triftiger Grund ist, Vorbehalte gegenüber der pflanzlichen Ernährung zu hegen.
Ein Nahrungsergänzungsmittel mit B12 ist das einzige Supplement, das ausnahmslos jedem Menschen unabhängig der Kostzusammenstellung im Rahmen einer veganen Ernährung dringend angeraten wird. In manchen Situationen werden auch andere Supplemente hilfreich sein, aber an B12 kommt man auf keinen Fall vorbei, weil mit Ausnahme von sehr wenigen und noch nicht ausreichend am Menschen erforschten Algenarten und einigen unter den richtigen Bedingungen fermentierten pflanzlichen Lebensmitteln nach aktuellem Kenntnisstand lediglich tierische Produkte relevante Mengen an für den Menschen verwertbarem B12 enthalten. Äußerst geringe Konzentrationen finden sich auch in manchen Pilzen, die allerdings bei weitem nicht für die tägliche Bedarfsdeckung ausreichen.2 Die B12-Gehalte von tierischen Produkten sind dagegen im Durchschnitt recht hoch, jedoch gibt es unter ihnen auch große Unterschiede in der Höhe und Bioverfügbarkeit.
Der Wunsch nach Natürlichkeit
Der Veganismus ist eine großartige Ernährungsweise mit weitreichenden positiven Konsequenzen für Mensch, Tier und Umwelt. Dennoch darf dieses wunderbare Ernährungskonzept nicht dazu verleiten, es auf Biegen und Brechen mit teils weit hergeholten Argumenten zu verteidigen. Auch wenn die B12-Problematik auf gewisse Weise Tür und Tor für Kritik am Veganismus öffnet, sollte man trotzdem nicht um jeden Preis versuchen, Wege zu finden, um auf natürliche Weise an B12 aus Pflanzen oder anderen Quellen zu kommen, weil man unnatürliche Nahrungsergänzungsmittel mit B12 vermeiden möchte. Das kann schnell auf Kosten der eigenen Gesundheit gehen, solange diese Quellen nicht ausreichend erforscht sind.
Bei all der Diskussion um die Natürlichkeit oder Widernatürlichkeit einer veganen Ernährung aufgrund der Nahrungsergänzung mit B12 werden zwei wichtige Punkte übersehen. Zum einen ist anzumerken, dass die Natürlichkeit einer Sache per se weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes und damit keine überzeugende Argumentationsgrundlage für oder gegen etwas ist. Zum anderen wird oft vergessen, wie B12 genau gebildet wird und dass es sich dabei nicht um einen klassischen Bestandteil tierischer Lebensmittel, sondern um das Produkt von Mikroorganismen handelt)- Die Bakterien, die B12 produzieren können, finden sich tatsächlich auch im Verdauungstrakt des Menschen sowie im Verdauungstrakt von vielen Tieren. Wir können uns aber im Gegensatz zu Wiederkäuern aller Voraussicht nach nicht selbst mit dem von den Darmbakterien produzierten B12 versorgen.
In früheren Zeiten mangelnder Hygiene bestand womöglich die Chance, dass man B12 durch Kot-Kontaminationen an vielen Stellen wie im Trinkwasser und in Erdresten an Lebensmitteln fand. Untersuchungen aus den 1950er Jahren an unterschiedlichen Gewässern, Wurzeln und Erdproben zeigten sogar teils erhebliche Mengen an B12.5 Dennoch sollten weder kontaminiertes Wasser, Erde oder andere unhygienische Quellen die B12-Versorgung decken, auch wenn dies vielleicht für so manchen natürlich erscheinen mag.
Wie Aber steht es um die Natürlichkeit der Nahrungsergänzung? Ist die fehlende Natürlichkeit ein gutes Argument gegen eine vegane Ernährung? Es ist ein sogenannter naturalistischer Fehlschluss zu denken, dass die Natur makellos und ausschließlich gut wäre und alles unnatürliche daher automatisch schlecht ist.§. Sehr viele natürliche Dinge wie schädliche Viren und Bakterien sind alles andere als gut und ihre Natürlichkeit macht sie nicht weniger gefährlich. Der Einsatz von Medikamenten oder Gegengiften ist dagegen weniger natürlich, aber in vielen Fällen äußerst hilfreich.
Es ist korrekt, dass in einer veganen Ernährung B12 in der heutigen Zeit zu kurz kommt. Allerdings sind vegan lebende Menschen nicht die einzige Personengruppe, der manche Mikronährstoffe fehlen und die diese als Nahrungsergänzungsmittel zuführen sollten. Laut der Nationalen Verzehrsstudie II (NVS II) nehmen in Deutschland knapp 28 % der Gesamtbevölkerung Nahrungsergänzungsmittel mit unterschiedlichen Vitaminen und Mineralstoffen ein.7 Da in Deutschland bei weitem noch nicht so viele Veganer und auch nicht so viele Vegetarier leben, scheint also auch ein guter Teil der mischköstlichen Bevölkerung Nahrungsergänzungsmittel zu benutzen. Daran ist auch grundsätzlich nichts auszusetzen, wenn diese korrekt dosiert werden und nicht dazu dienen, insgesamt ungesunde Ernährungsmuster zu kompensieren, sondern lediglich die Versorgung mit ausgewählten kritischen Nährstoffen im Rahmen e.iner ansonsten gesunden Ernährung sicherzustellen. Während die Einnahme von Supplementen bei einem Teil der Bevölkerung toleriert und bei Mängeln sogar befürwortet wird, dient dies oft fälschlicherweise als Argument gegen eine vegane Ernährung. Eine Unterversorgung mit B12 betrifft im Übrigen auch einen nicht unerheblichen Teil der westlichen, sich vegetarisch oder mischköstlich ernährenden Bevölkerung und ist keineswegs ausschließlich ein Thema bei veganer Ernährung. Angekreidet wird ein Mangel an B12 jedoch meist nur den Veganern.
Die Daten aus der Framingham Offspring Study zeigten im Jahr 2000, dass in einer Gruppe von knapp 3.00 untersuchten Amerikanern im Alter von 26 bis 83 Jahren auch 39 % der mischköstlichen Teilnehmer B12-Serumwerte im unteren Normbereich hatten. 17 % der Mischköstler befanden sich bereits an der Grenze zum Mangel und 9 % wiesen einen manifesten Mangel auf. Zwar wurden die gemessenen Serumwerte mit zunehmendem Alter bei allen Probanden schlechter, aber auch bei der Gruppe der Mischköstler unter 30 Jahren wiesen 8 % einen Mangel auf, wodurch sich auch diese Altersgruppe nur knapp von den älteren Semestern unterschied. Besonders interessant war außerdem, dass sich der Anteil an Personen mit einem manifesten B12-Mangel zwischen den beiden Gruppen an Menschen mit dem höchsten und niedrigsten Fleischverzehr nicht signifikant voneinander unterschied. Dies unterstreicht erneut die wichtige Bedeutung der Aufnahmefähigkeit von B12 zur Bedarfsdeckung. Die besten Serumwerte hatten dabei nicht die Mischköstler mit dem höchsten Konsum tierischer Produkte, sondern die Personen, die regelmäßig B12-haltige Nahrungsergänzungsmittel oder mit B12 angereicherte Lebensmittel zu sich nahmen.8 Das überrascht nicht, denn B12 ist in Nahrungsergänzungsmitteln zumeist wesentlich höher konzentriert und kann sogar besser absorbiert werden als B12 aus der Nahrung..2. In den meisten Fällen handelt es sich bei Mischköstlern mit einem suboptimalen B12-Wert um sogenannte Malabsorber, die zwar ausreichend B12 über die Nahrung aufnehmen, dieses jedoch nicht ausreichend verwerten können. Ihnen können aber meist höhere Dosen an freiem B12 aus Nahrungsergänzungsmitteln helfen, weil das B12 in Supplementen nicht an Proteine gebunden und damit besser verwertbar ist. Einige Nahrungsmittel, die synthetische Formen von B12 enthalten, werden darüber hinaus noch stärker für ihre mangelnde Natürlichkeit kritisiert, jedoch ist das synthetische B12 namens Cyanocobalamin nicht nur stabiler, sondern auch besser erforscht als natürlich vorkommende Arten von B12.11.Dieser Umstand soll nicht dazu ermutigen, Nahrungsergänzungsmittel anstatt Lebensmittel zu sich zu nehmen, aber er zeigt auf, dass durchaus unnatürliche Dinge manchmal sehr positiv sein können und dass am Ende einfach zählt, dass ein Nährstoff gedeckt wird. Ob B12 nun einer Leber oder einem B12-Präparat entstammt, ist dem Körper egal, solange die Zufuhrmenge stimmt. Dies mag nicht auf jeden Nährstoff im selben Maße zutreffen, scheint aber in Bezug auf B12 der Fall zu sein.
Die Framingham Offspring Study zeigt also, dass unabhängig von der Ernährungsweise oder dem Alter mehr Menschen als bisher angenommen von einem B12–Mangel betroffen sind. Da in dieser Studie lediglich die Gesamt-Vitamin-B12-Werte der Teilnehmer gemessen wurden und nicht der an späterer Stelle vorgestellte, sensiblere Holo-TC-Wert, ist sogar anzunehmen, dass bei genaueren Testmethoden noch mehr Menschen einen Mangel diagnostiziert bekommen hätten. Von einem B12-Mangel als »Volkskrankheit« zu sprechen, wie es in manchen Veröffentlichungen übertrieben dargestellt wird, wäre aber zu hoch gegriffen. Dennoch sollte dieser Umstand zeigen, dass es zu kurz gedacht wäre, B12-Mängel als rein veganes Problem abzustempeln.
Dieses Kapitel soll nicht nur dazu dienen, Vorbehalte gegenüber einer veganen Ernährung in Bezug auf B12 bei Nicht-Veganern abzubauen. Ebenso sollen Veganer dazu angeregt werden, Abstand von waghalsigen Ideen zur B12-Versorgung abseits von gut gesicherten Quellen zu nehmen. Wie dieses Kapitel noch zeigen wird, erweisen sich die allermeisten der angeblich natürlichen B12-Quellen als Irrtum und zu viele Menschen haben damit bereits ihre Gesundheit unwiderruflich geschädigt, weil sie daran geglaubt und dadurch schwerwiegende Mängel erlitten haben. Die Liste von Menschen mit schweren B12-Mängeln und ernsthaften zum Teil irreversiblen Schäden in der ernährungswissenschaftlichen Literatur ist bereits lang und sie sollte nicht noch länger werden.
Grundlegendes zu Vitamin B12
Bevor es um die unterschiedlichen Wege zur Versorgung mit B12 geht und mit einigen Mythen rund um die Thematik aufgeräumt wird, werden vorab noch grundlegende Punkte zum Thema B12 besprochen. Unter dem Sammelbegriff Vitamin B12 (Cobalamin) werden genau genommen eine ganze Reihe unterschiedlicher Cobalamine zusammengefasst, die chemisc·h eng miteinander verwandt sind. Sie alle besitzen dasselbe Grundgerüst, von dem sich alle unterschiedlichen Formen ableiten. Das zentrale Atom innerhalb dieses Grundgerüsts bildet – wie der Name Cobalamin schon vermuten lässt – ein Kobaltatom, an das unterschiedliche Seitengruppen gebunden sind. Je nachdem welche Restgruppe am Grundgerüst angebunden ist, unterscheidet man die Cobalaminarten, von denen die vier relevantesten hier vorgestellt werden.
Am häufigsten unterscheidet man zwischen Methylcobalamin und Cyanocobalamin, da diese beiden Formen am häufigsten in Präparaten verwendet werden. Relevant sind aber auch Hydroxocobalamin und Adenosylcobalamin. Diese kommen sowohl in der Natur als auch in manchen Nahrungsergänzungsmitteln vor. 14 Cyanocobalamin ist eine synthetische Verbindung, die in dieser Form in der Natur nicht vorkommt und auch nicht biologisch aktiv ist. Das bedeutet, dass der Körper sie erst in eine aktive B12-Wirkform umwandeln muss. Dafür hat Cyanocobalamin aber den Vorteil, dass es nicht nur die günstigste, sondern auch stabilste Form aller B12-Arten ist.li Methylcobalamin und zu noch größeren Teilen Adenosyl und Hydroxocobalamin kommen dagegen in Lebensmitteln in unterschiedlichen Verhältnissen vor.16 Methyl- und Adenosylcobalamin sind die beiden aktiven B12-Formen, wohingegen auch Hydroxocobalamin erst in die aktiven Formen umgewandelt werden muss.
Die tägliche Versorgung mit Vitamin 812
Der tatsächliche tägliche Bedarf an B12 beträgt laut DGE nur 2 µg (mcg, Mikrogramm). Aufgrund der Tatsache, dass Menschen meistens aber nicht das gesamte B12 einer Mahlzeit oder eines Supplements aufnehmen können, mit steigendem Alter die Aufnahmefähigkeit sinkt und es interindividuelle Unterschiede in der Aufnahmefähigkeit gibt, empfiehlt die DGE eine höhere Zufuhr von 4 µg pro Tag für Erwachsene.TI In dieser Empfehlung sind auch bereits die durchschnittlichen Verwertungsverluste im Rahmen einer gemischten Kost einkalkuliert. Auch diese Menge ist verschwindend gering und zeigt, wie wenig der Organismus von diesem Vitamin eigentlich benötigt. 4 µg sind nur 4 Millionstel von einem Gramm. Selbst wenn man also 100 Jahre alt würde, hätte man im Laufe des gesamten Lebens nur einen Bedarf von etwa 0,1 g an Vitamin B12 gehabt. Seit der Veröffentlichung der offiziellen Empfehlung haben andere Untersuchungen zwar einen etwas höheren B12-Bedarf vorgeschlagen, doch sind auch diese immer noch sehr gering. 2006 stellte eine Untersuchung die offiziellen Empfehlungen zumindest für Menschen im fortgeschrittenen Alter in Frage, da die Messung an knapp 100 dänischen, postmenopausalen Frauen ergab, dass erst ab einer täglichen Gabe von 6 µg die Blutwerte optimal erhöht werden konnten. 18 2010 wurde dann eine größere Gruppe von knapp 300 amerikanischen Männern und Frauen im Alter von 18-50 untersucht. Dabei konnte festgestellt werden, dass bei der Gabe unterschiedlicher Dosen alle getesteten Blutparameter bei einer Zufuhr von 4-7 µg täglich ihr Optimum erreichten. 19 Doch auch bei einem Bedarf von täglich 6 µg nimmt ein Mensch in hundert Jahren Lebenszeit nur etwa 0,25 g B12 auf.
Vitamin B12 ist entgegen der weitverbreiteten Meinung relativ hitzestabil. Die Verluste von B12 in tierischen Produkten schwanken bei den Haushalt üblichen Zubereitungstechniken zwischen 10-30% Bei Vorgängen wie dem Pasteurisieren von Milch werden 5-10 % des Vitamins zerstört. 24 Selbst beim Ultrahocherhitzen von Milch geht nur etwa ein Drittel verloren. 25 Die Hitzebeständigkeit von B12 gilt aber auch für zugesetztes B12, wie es in manchen Ländern dem Mehl zugegeben wird. Mit B12 angereicherter Brotteig verliert so durch das Backen ebenfalls nur etwa ein Drittel des ursprünglichen Gehalts.26
Ein kleiner Ausflug in die Anatomie des Menschen
Es ist wichtig, ausreichend B12 über die Nahrung oder entsprechende Supplemente aufzunehmen. Darüber hinaus spielt es aber auch eine ebenso große Rolle, wie gut das Vitamin vom Körper aufgenommen wird. Nicht selten erleiden Menschen trotz ausreichender Nahrungszufuhr aus unterschiedlichen Gründen leichte und schwere B12-Mängel. Um diese wichtige Thematik besser verstehen zu können, muss ein kleiner Ausflug in die Anatomie des menschlichen Verdauungstraktes unternommen werden. Nur so kann man besser überblicken, welche komplexen Wege B12 im Organismus nehmen muss, bevor es letztendlich seine Arbeit verrichten kann. Abb. 16 (siehe folgende Seite) ist zwar sehr spezifisch und für das Grundverständnis nicht zwingend notwendig, aber sie hilft zu verstehen, an welchen Stellen welche Engpässe auftreten können, die eine optimale Versorgung und Wirkung von Vitamin B12 verhindern können.
Das B12, das manchmal auch als »Extrinsischer Faktor« (Extrinsic Factor) bezeichnet wird, ist in Nahrungsmitteln überwiegend an Proteine gebunden und wird daher in Abb. 16 als B12-Protein-Komplex bezeichnet. Es kann erst im Magen durch die in der Magensäure enthaltenen Enzyme (sogenannte Proteasen) vom Protein gespalten werden, um als freies B12 seinen weiteren Weg zu gehen. Das in Ergänzungsmitteln enthaltene freie Cobalamin bindet sich bereits zum Teil im Mund an die Transportproteine, an die sich das B12 aus der Protein-B12-Verbindung erst nach der Abspaltung vom Nahrungsprotein im Magen binden kann. Dieses Transportprotein namens Haptocorrin (HC) wird in den Speicheldrüsen der Mundschleimhaut mit dem Ziel produziert, B12 vor der Magensäure zu schützen, sobald es in den Magen gelangt. Im menschlichen Verdauungstrakt sind verschiedene Arten von Proteasen mit unterschiedlichen Bezeichnungen an verschiedenen Stellen aktiv. In der Magensäure ist es das sogenannte Pepsin, das für die Spaltung des B12 vom Nahrungsprotein verantwortlich ist.
Im Magen angelangt, wird also das proteingebundene B12 enzymatisch durch Pepsin vom Protein abgespalten. Dieses nun freie, aber säuresensitive B12 benötigt einen Schutz vor der Magensäure, um unbeschadet vom Magen in den Dünndarm zu gelangen. Daher bindet es sich ebenso wie bereits zuvor das freie B12 an die schützenden Haptocorrin Transportproteine aus der Mundschleimhaut, die mit dem Nahrungsbrei in den Magen gelangt sind und bildet so den B12-Haptocorrin-Komplex. Dadurch kann es sich vor der Magensäure schützen. Im Magen, genauer gesagt in der Magenschleimhaut, befinden sich zudem sogenannte Beleg- oder Parietalzellen, die den überaus wichtigen Intrinsic Factor (IF), ein weiteres spezielles Transportprotein, absondern, das für die spätere Aufnahme von B12 im Dünndarm von großer Bedeutung ist.
Abb. 16: Die Aufnahme von Vitamin B12 im menschlichen Körper 21,2s, 30
Wenn der B12-Haptocorrin-Komplex den Magen verlassen hat und im ersten Abschnitt des Dünndarms (Zwölffingerdarm) angekommen ist, kommt ein weiteres proteinspaltendes Enzym zum Einsatz, das diesmal aber von der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) abgesondert wurde und mit in den Dünndarm gelangt. Dieses Enzym nennt sich Trypsin und spaltet nun den ursprünglichen B12–Haptocorrin-Komplex, damit das B12 erneut frei wird. Dadurch kann es sich mit dem zuvor im Magen produzierten zweiten Transportprotein namens Intrinsic Factor (IF) verbinden, das vom Magen aus denselben Weg in Richtung Dünndarm unternommen hat. Dieser B12-IF-Komplex ist nun gegenüber proteinspaltenden Enzymen geschützt und kann sich den Dünndarm entlang bewegen. Wenn er schließlich im dritten und letzten Abschnitt des Dünndarms, dem sogenannten Ileum, angelangt ist, kann er an spezielle IF Rezeptoren der Dünndarm-Schleimhaut andocken, um in die Blutbahn aufgenommen zu werden. Die limitierte Menge der Rezeptoren ist hier der entscheidende Grund, warum pro Zeiteinheit nur etwa 1,5-2,5 µg B12 aufgenommen werden können und erst nach 4-6 Stunden wieder die volle Kapazität zur B12-Aufnahme zur Verfügung steht, wenn das vorher angedockte B12 die Rezeptoren in Richtung Blutbahn verlassen hat.
Nach der Aufnahme von B12 durch den IF-Rezeptor gelangt es in die Zellen der Dünndarmschleimhaut und der B12-IF-Komplex wird hier ein weiteres Mal gespalten, damit sich das B12 für seinen finalen Transport im Blut erneut an andere Transportproteine binden kann. Etwa 20 % des aufgenommenen B12 wird an das in den Zellen der Dünndarmschleimhaut gebildete sogenannte Transcobalamin II gebunden. Dieser Komplex aus B12 und Transcobalamin II nennt sich Holo-Transcobalamin II (Holo TC) und ist im Gegensatz zu den anderen B12-Komplexen mit weiteren Transportproteinen im Blut als einziger in der Lage, von den Zellen aufgenommen zu werden und damit wirksam zu sein. Holo-TC ist vielen Menschen bereits von ihren Bluttests bekannt, denn genau dieser Wert wird bestimmt, wenn man wissen möchte, wie es um die Versorgung mit aktivem B12 im Körper bestellt ist. Wenn dieser B12-Holo-TC-Komplex zu den Zielzellen z. B. in der Leber oder dem Knochenmark transportiert wurde, kann er an die dort vorhandenen Transcobalamin-II-Rezeptoren andocken und so in die Zelle aufgenommen werden. Die restlichen etwa 80 % des Vitamin B12, die im Blut nicht als Holo-Transcobalamin II vorliegen, werden an andere Transportproteine gebunden und sind biologisch nicht aktiv. Ihre genaue Aufgabe ist bis heute nicht geklärt.
Je nachdem, an welchem Ort das B12 wirksam ist, wird es in eine andere Form umgewandelt. Nicht jede Art von B12 kann alle notwendigen Aufgaben erfüllen und so kann beispielsweise Methylcobalamin nicht die Aufgaben von Adenosylcobalamin übernehmen und umgekehrt. Hydroxo und Cyanocobalamin sind im Organismus nicht aktiv und müssen beide erst in die jeweils benötigte Form (Methyl- oder Adenosylcobalamin) umgewandelt werden, um biologisch aktiv zu werden und die jeweiligen Aufgaben erfüllen zu können.
Im Cytoplasma e.iner Zelle wird aus den unterschiedlichen Cobalaminen aus der Nahrung bzw. aus dem Nahrungsergänzungsmittel Methylcobalamin gebildet. Methylcobalamin hat zwar mehrere Aufgaben, für diesen Kontext ist aber vor allem eine besonders wichtig: Es baut die toxische Aminosäure Homocystein ab, die durch den Verzehr von methioninhaltigen Lebensmitteln gebildet wurde. Daher kann man über einen erhöhten Homocysteinwert auch in einigen Fällen indirekt auf einen B12-Mangel schließen. Auf der anderen Seite erfüllt B12 aber noch eine weitere wesentliche Rolle, die allerdings nicht von Methylcobalamin übernommen werden kann. Damit dem Organismus ausreichend Energie zur Verfügung steht, besitzen Zellen in ihrem Cytoplasma sogenannte Mitochondrien, die als Kraftwerke der Zelle fungieren und durch biochemische Reaktionen Energie bereitstellen. In diesem komplexen Vorgang spielt B12 in Form von Adenosylcobalamin eine wichtige Rolle. Daher wird im Mitochondrium aus den unterschiedlichen Cobalaminen im Gegensatz zum Cytoplasma kein Methylcobalamin, sondern Adenosylcobalamin gebildet. Ist zu wenig Adenosylcobalamin im Mitochondrium vorhanden, erhöht sich die Menge an sogenannter Methylmalonsäure. Diese kann also wiederum ebenfalls als indirekter Marker für einen Mangel an B12 herangezogen werden. Im Abschnitt über die Parameter zur Beurteilung der B12-Versorgung wird auf das Homocystein und die Methylmalonsäure noch im Detail eingegangen.
Die Geschichte von Vitamin 812
In Bezug auf die B12-Thematik hatte der Veganismus einen etwas unglücklichen Start. Im November 1944 veranlasste Donald Watson als Pionier der veganen Bewegung gemeinsam mit Elsie Shringley und vier anderen »Non dairy vegetarians« ein Meeting. Darin diskutierten sie ihren Ernährungs- und Lebensstil als »strikte Vegetarier ohne Milchprodukte und Eier« und prägten dabei den Begriff »vegan«. So legten sie den Grundstein für den Veganismus in seiner heutigen Form)..!
Das Konzept des Veganismus als eine Ernährungsweise mit ausschließlich pflanzlichen Lebensmitteln, gänzlich ohne den Konsum tierischer Produkte, kann allerdings noch wesentlich weiter zurückverfolgt werden. Dokumente aus dieser Zeit können einen interessanten Einblick in frühe unerkannte B12-Mängel bei langjähriger rein pflanzlicher Ernährung geben. Der Historiker John Davis gibt in seiner Veröffentlichung »World Veganism – past, present, and future« einen ausführlichen Einblick in die frühe Geschichte des Veganismus und benennt den britischen Arzt Dr. William Lambe als »Father of Vegan Nutrition«. 32 Dieser unternahm 1806 im Alter von 41 Jahren aus gesundheitlichen Gründen eine Umstellung auf eine rein pflanzliche Ernährung. Diese behielt er im Anschluss ununterbrochen für die nächsten 41 Jahre bis zu seinem Tod 1848 bei. Nach den Überlieferungen seiner Familie war er dabei bis kurz vor seinem Tod bei bester Gesundheit. Neun Jahre nachdem er sich für eine vegane Ernährung entschieden hatte, veröffentlichte er 1815 ein wegweisendes Werk über seine Erfolge mit seiner eigenen Gesundheit sowie mit der Gesundheit einiger seiner Patienten durch die pflanzliche Ernährung. Das Werk trägt den etwas sperrigen Titel »Additional Reports on the Effect of a Peculiar Regimen in cases of Cancer, Scrofula, Consumption, and other Chronic Diseases«.
Dieses »Peculiar Regimen«, also diese »sonderbare Kur«, meinte damit eine vollwertige, rein pflanzliche Ernährung und bildete somit die erste konkrete Erwähnung der rein pflanzlichen Ernährung in der Geschichte. Wie das Vorwort der amerikanischen Ausgabe bereits 1850 deutlich machte, konnten viele Menschen durch diese Art der Ernährung in den ersten Jahren nach ihrer Ernährungsumstellung große Verbesserungen in ihrer Gesundheit erfahren und chronische Erkrankungen damit heilen)l. Doch ebenso wird betont, dass viele Menschen nach einiger Zeit der rein pflanzlichen Ernährung eine Verschlechterung ihrer Gesundheit erlebten und erst dann Verbesserungen erfuhren, als sie wieder Fleisch aßen. Im Vorwort heißt es dazu, dass dieser Umstand wohl durch eine Verwässerung der anfangs sehr gesunden und strikten pflanzlichen Ernährung zustande kommen müsse. Es wird im Buch spekuliert, dass die Neu-Veganer mit der Zeit wohl immer mehr ungesunde pflanzliche Lebensmittel und zu viele Kalorien in ihre Ernährung integrierten und somit zu dem wurden, was man heute als »Junkfood-Veganer« bezeichnet. Doch warum wurde ihre Gesundheit dann besser, als sie wieder Fleisch aßen? Da Vitamin B12 zu dieser Zeit noch gar nicht als Vitamin entdeckt war, wusste man noch nicht, dass es ein essenzielles Vitamin in tierischen Produkten gab, das in einer rein pflanzlichen Ernährung auf Dauer fehlen kann. Ohne das Wissen über B12 fehlte zu dieser Zeit also ein Erklärungsmodell für diese gesundheitliche Verschlechterung. Also wurde ein Verwässern der gesunden pflanzlichen Lebensweise durch ungesunde pflanzliche Kost als Erklärung genannt, obwohl es mit dem heutigen Wissen naheliegender wäre, dass sich jene Verschlechterung zumindest in vielen Fällen durch einen langjährigen Mangel an B12 erklären lässt. Weder Dr. Lambe im Jahr 1818 noch Donald Watson 1944 konnten etwas über B12 wissen, weil dieses als vorläufig letztes Vitamin erst 1948 entdeckt und seine genaue Struktur erst 19 55 aufgeklärt wurde. 34
Schon im Jahr 1926 konnten Wissenschaftler durch die Verabreichung von roher bzw. nur sehr kurz gegarter Leber aber bereits die ansonsten tödlich verlaufende perniziöse Anämie heilen, die als erste Erkrankung im weiteren Verlauf mit B12 in Verbindung gebracht wurde. Obwohl Patienten mit perniziöser Anämie starke B12-Aufnahmestörungen haben, wodurch trotz des Konsums tierischer Lebensmittel in üblichen Verzehrmengen ein B12-Mangel entsteht, konnten die Patienten durch den hohen B12-Gehalt der Leber genug B12 absorbieren, um zu genesen. 35
Allerdings war zu dieser Zeit nicht klar, dass die Heilung der ansonsten tödlich endenden perniziösen Anämie durch jenen Stoff herbeigeführt wurde, der Jahre später als Vitamin B12 bezeichnet wurde, weil dazu noch das nötige Wissen fehlte. Man wusste lediglich, dass es irgendein Stoff in der Leber war, der zu dieser Zeit noch nicht benannt werden konnte. So wurde dieser unbekannte Stoff vorübergehend »Leberfaktor« genannt und Leber zur gezielten Behandlung von perniziöser Anämie eingesetzt. Über die zahlreichen anderen Aufgaben dieses »Leberfaktors« (Vitamin B12) wusste man damals selbstverständlich noch nichts und es sollten noch viele Jahre vergehen, bis B12 und all seine Aufgaben im menschlichen Körper in seiner Gesamtheit verstanden wurden. 1944, im Gründungsjahr der Vegan Society, wurde erst der zur B12– Aufnahme erforderliche Intrinsic Factor (IF) vorgestellt, ohne dass Vitamin B12, das zwischenzeitlich als Pendant zum »Intrinsic Factor« einfach »Extrinsic Factor« genannt wurde, als Vitamin kategorisiert wurde. Damit war aber zumindest schon ein wichtiger Schritt in der Verstoffwechselung des Vitamins klar und Wissenschaftler verstanden das Thema B12 dadurch immer besser. Erst vier Jahre später, im Jahr 1948, gelang es zwei unterschiedlichen Forscherteams unabhängig voneinander, Vitamin B12 zu isolieren und es damit in weiterer Folge der Allgemeinbevölkerung zugänglich zu machen. 36
Somit vergingen viele Jahre in der Geschichte des Veganismus, in denen noch niemand von B12 und seiner Bedeutung in der veganen Ernährung wusste. So war es wenig überraschend, dass viele frühe Veganer nach einigen Jahren an den Folgen von B12-Mängeln litten. Auch nach der Einführung von B12 als Nahrungsergänzungsmittel sprach sich die Notwendigkeit einer Supplementierung nicht in der wünschenswerten Geschwindigkeit in der veganen Bewegung herum. Selbst 45 Jahre nach der Entdeckung von B12 ergab eine Befragung unter Veganern im Jahr 1993, dass etwa 66 % der befragten vegan lebenden Personen immer noch der Meinung waren, dass eine vegane Ernährung alleine durch pflanzliche Lebensmittel alle benötigten Vitamine liefere. Dabei schlussfolgerten die Autoren damals bereits, dass in einer veganen Ernährung B12 als Nahrungsergänzung unbedingt zugeführt werden muss. 37
In einer Befragung des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) aus dem Jahr 2016 wurde erneut die Kenntnis über die Notwendigkeit der B12-Supplementierung in der veganen Ernährung evaluiert und die Ergebnisse sahen nun glücklicherweise schon wesentlich besser aus. 95 % der befragten Veganer wussten, dass B12 in der veganen Ernährung zu kurz kommt, und immerhin 79 % der Befragten nahmen es auch als Supplement ein.38 So schlussfolgerte das BfR, dass laut dieser Befragung die vegane Gruppe überdurchschnittlich fundiertes Ernährungswissen aufwies.39 Auch in den Medien wurde daraufhin positiv berichtet und es hieß »Vegane Ernährung: Risikofaktor ist niedriger als erwartet.« 40
Trotz dieser durchaus positiven Entwicklung bleiben immer noch ein paar Prozent Veganer übrig, denen das Fehlen dieses Nährstoffs nicht bewusst ist. Auch heute noch fragen sich einige durch die vermeintlichen B12– Kontroverse verunsicherte Menschen, ob sie zwingend ein Nahrungsergänzungsmittel mit B12 einnehmen sollen oder nicht. Außerdem zeigt die Differenz zwischen den befragten Veganern, die sich eines potenziellen Mangels bewusst sind, und denen, die tatsächlich supplementieren, dass auch abseits der Unkenntnis ein gewisser Leichtsinn vorherrscht. Weiterhin propagieren einige Einzelpersonen eine natürliche B12-Versorgung über ungewaschenes Gemüse, die Eigenversorgung durch die eigenen Darmbakterien sowie weitere unbelegte Quellen und gefährden damit die Gesundheit vieler Menschen.
Vitamin-B12-Anreicherung in Pflanzen
Bereits 1988 hieß es in einer Veröffentlichung: »Es gibt kein verwertbares Vitamin B12 in irgendeinem Lebensmittel, das aus dem Boden wächst.«57 Im bereits im Protein-Kapitel erwähnten Buch zur 80/10/10-Diet von Dr. Douglas Graham heißt es hingegen, dass Pflanzen über ihre Wurzeln Nährstoffe aufnehmen, zu denen auch das Vitamin B12 gehört.58 Grundsätzlich ist es natürlich richtig, dass Pflanzen Nährstoffe über ihre Wurzeln aus dem Boden aufnehmen. Aber wie viel B12 müsste sich tatsächlich im Erdreich befinden, damit eine Pflanze genug davon akkumulieren könnte? Pflanzen benötigen nämlich im Gegensatz zu Mensch und Tier kein B12 für ihren Stoffwechsel59 und dies dürfte wohl auch einer der Gründe sein, warum in den allermeisten Untersuchungen kaum relevante Mengen an für den Menschen verwertbarem B12 in Pflanzen vorgefunden werden konnte. Unabhängig davon, ob Pflanzen B12 brauchen oder nicht, stellt sich die Frage, inwieweit sie es generell aufnehmen und akkumulieren können. Eine Untersuchung ging genau dieser Fragestellung nach und testete anhand von Rettichsprossen, ob sich der Gehalt an Vitamin B12 in der Pflanze ändert, wenn man B12 in das Nährmedium der Sprossen gibt. 60
Tatsächlich konnte die Untersuchung eine Erhöhung des B12-Gehalts feststellen. Die getesteten Rettichsprossen enthielten durch Zugabe von B12 in das Nährmedium beträchtliche 1,28 µg B12 pro Gramm frischer Sprossen. Daher resümierten die Wissenschaftler, dass Sprossen, die in einem B12-haltigen Nährmedium gezogen werden, eine gute, rein pflanzliche Quelle für B12 sein können. Bedeutet das auch, dass Pflanzen, wie es Dr. Graham prognostiziert, in der freien Natur genügend B12 aus der Erde aufnehmen könnten, wenn Mikroorganismen es dort produzieren sollten?
Man muss relativierend erwähnen, dass die Mengen an B12, die für die Anreicherung der Sprossen notwendig war, um ein Vielfaches höher waren, als man sie in einer natürlichen Umgebung wie der Erde jemals vorfinden würde. So benötigten die Wissenschaftler eine Nährstofflösung mit 200 µg Vitamin B12 pro Milliliter, um jene 1,28 µg B12 pro Gramm frischer Sprossen zu erzeugen. Bei niedrigeren B12-Konzentrationen in Höhe von 25 µg/ml im Einweichwasser betrug die Konzentration in den Sprossen aber immerhin noch 0,3 µg/g. Aber selbst diese niedrigeren Konzentrationen finden sich nicht in den bis dato untersuchten, natürlich vorkommenden Erdproben. Diese ergaben Werte von 0,002 bis 0,015 µg Vitamin B12 pro Gramm frischer Erde.21So hohe Konzentrationen an B12, wie in dieser Studie genutzt wurden, könnten nur durch gezielte Zugabe von B12 in die Erde erreicht werden und das bedeutet, dass man auf der Suche nach »natürlichem« Vitamin B12 ohnehin »unnatürliches« B12 in großen Mengen zur Erde oder zum Einweichwasser hinzugeben müsste.
Darüber hinaus würde man große Verluste an B12 vom ursprünglichen Präparat zur Akkumulierung in der Pflanze generieren. Dieses Vorgehen ist also weder besonders natürlich noch effizient und so macht es wesentlich mehr Sinn, das Präparat in passender Dosis direkt einzunehmen, anstatt mit großen Verlusten indirekt über die Pflanze. Immer wieder hört man, dass B12 allerdings besser bioverfügbar wäre, wenn es über den Umweg der Pflanze oder des Tiers anstatt über ein Nahrungsergänzungsmittel zugeführt wird. Diese Behauptung kann allerdings durch keine Untersuchungsergebnisse belegt werden und wie es scheint, ist sogar das Gegenteil der Fall. In der Framingham Offspring Study waren es die Personen mit B12-Nahrungsergänzungsmitteln oder angereicherten Lebensmitteln, die noch vor den Mischköstlern die besten Serum-B12-Werte aufwiesen.62
Wie sieht es nun mit der Konzentration an Vitamin B12 in Pflanzen aus, die auf dem Feld mit B12-haltigem Kuhmist gedüngt wurden? Enthalten sie genügend Vitamin B12 für den täglichen Bedarf? Ebenso wie menschlicher Kot enthält auch der Kuhdung B12 in größerer Menge und so besteht die theoretische Möglichkeit, dass der Kot die Pflanzen mit B12 anreichert. Bei einer Untersuchung aus dem Jahr 1994 konnte der B12-Gehalt von Spinat und Gerste durch Düngung mit Kot tatsächlich verdoppelt bzw. verdreifacht werden. Daher wird die Untersuchung immer wieder als Beleg dafür angeführt, dass der Grund für die unzureichende Versorgung mit B12 lediglich die falsche Düngung und die generell toten Böden in der industriellen Landwirtschaft seien.63
Dabei wird allerdings oft übersehen, dass die Konzentrationen an B12 trotz Verdoppelung oder Verdreifachung immer noch viel zu gering sind, um in üblichen Verzehrmengen den Bedarf einer Person mit Vitamin B12 zu decken. Trotz der Verdoppelung der B12–Konzentration in Spinat betrug diese immer noch nur 0,14 µg/100 g.64 Das bedeutet, man müsste zur Bedarfsdeckung in Höhe von 4 µg täglich knapp drei Kilo Spinat essen. Zur Deckung der höher liegenden Empfehlung von 6 µg pro Tag müssten es sogar mehr als vier Kilo Spinat sein.
Obwohl man es oft hört und liest, sollten fermentierte Lebensmittel wie Sauerkraut und Joghurt nicht per se als adäquate B12-Quellen angesehen werden, weil nicht alle Bakterienkulturen zu gleichen Teilen B12 produzieren können.65 So zeigte beispielsweise eine Untersuchung an Kimchi (koreanische Spezialität aus fermentiertem Gemüse) lediglich einen B12-Gehalt von etwa 0,2 µg/100 g.66 Außerdem merken die Autoren an, dass das enthaltene B12 vermutlich von der Fischsauce im Kimchi und nicht aus der Fermentation stammt und daher ist es fraglich, inwieweit veganes Kimchi überhaupt messbare Mengen an B12 enthält. Andere vielversprechende Untersuchungen zeigen aber, dass mithilfe der richtigen Bakterienkulturen Sauerkraut durch die Fermentation mit sogenannten Propionibakterien erstaunliche 7,2 µg an überwiegend bioverfügbarem B12 pro 100 g enthalten kann.67 Dies wurde 2015 sogar noch übertroffen, als ein Sojajoghurt mit »Lactobacillus reuteri« fermentiert wurde und so 18 µg Vitamin B12 pro 100 ml enthielt. Lediglich 10 % waren unwirksame B12-Analoga, sodass dieser Joghurt mehr als 16 µg bioverfügbares B12 pro 100 ml enthielt.68 Doch bis derartige Produkte zu vernünftigen Preisen flächendeckend auf den Markt gelangen und deren Wirksamkeit einwandfrei am Menschen getestet wurde, wird noch einige Zeit vergehen, und so ist es besser, bis dahin ein bewährtes Nahrungsergänzungsmittel mit B12 einzunehmen.
Algen scheinen unter all den potenziellen pflanzlichen B12-Anwärtern die mit Abstand größten Hoffnungsträger zu sein. Da es aber schätzungsweise mehr als 40.000 unterschiedliche Algenarten gibt, kann man hier schlecht verallgemeinernd über Algen als eine homogene Gruppe von Pflanzen sprechen. Nicht alle Algen sind überhaupt Pflanzen. Während Grünalgen wie die Chlorella zu den Pflanzen gezählt werden, gehören Rotalgen wie Nori nur noch in die verwandtschaftliche Nähe. Blaualgen wie Spirulina sind im Grunde sogar gar keine Algen, sondern Bakterien, die aber weiterhin im allgemeinen Sprachgebrauch zur Gruppe der Algen gezählt werden.69 Bei einer Untersuchung an 326 unterschiedlichen Algenarten konnte festgestellt werden, dass etwa die Hälfte von ihnen im Gegensatz zu Landpflanzen B12 für ihren Stoffwechsel benötigt und dadurch auch B12 in relevantem Maße akkumulieren könnte.70
Der Umstand, dass eine Pflanze B12 enthält, macht diese allerdings noch nicht zum guten B12-Lieferanten. Es gibt neben den bioverfügbaren Arten von B12 nämlich auch eine Reihe an nicht-bioverfügbaren Cobalaminen. Diese werden als B12-Analoga bezeichnet. Diese Analoga sind nicht nur unnütz für den Menschen, sondern können sogar die Aufnahme von gleichzeitig zugeführten aktivem B12 reduzieren.TI Der wichtige Unterschied zwischen für den Menschen bioverfügbarem B12 und B12-Analoga kann allerdings in einigen Testverfahren nicht ausreichend herausgearbeitet werden. Bei einer häufig eingesetzten Methode zur Bestimmung des B12-Gehalts von Lebensmitteln kommen Bakterien zum Einsatz, die sich auch mit gewissen B12-Analoga versorgen können, die Menschen nicht verwerten können. Im Test wird dabei ein Extrakt des zu bestimmenden Lebensmittels an Milchsäurebakterien wie beispielsweise den Lactobacillus Leichmannii verfüttert und anhand von dessen Wachstum bestimmt, wie hoch der Gehalt an enthaltenen Cobalaminen ist. Die Wachstumsrate eines Bakteriums ist aber nicht immer ein guter Indikator für die Menge an für den Menschen verwertbarem B12, weil diese Bakterien eben manche Cobalamine verwerten können, die der Mensch nicht nutzen kann. Durch die fehlende Unterscheidung zwischen den bioverfügbaren Cobalaminen, die für den Menschen nützlich sind, und den B12-Analoga kamen in der Vergangenheit irreführende Behauptungen in Bezug auf den B12-Gehalt von einigen Lebensmitteln zustande. In vielen Fällen sind allerdings bis zu 80 % der gemessenen Cobalamine in pflanzlichen Produkten für den Menschen nicht bioverfügbar.72
Von daher können vorgelegte Labormessungen von Lebensmitteln täuschen, wenn dabei veraltete Testverfahren benutzt wurden, die nicht zwischen den bioverfügbaren Cobalaminen und den B12-Analoga unterscheiden können. Vor allem einige Lebensmittel wie Spirulina, die zum Teil immer noch als B12-haltige Lebensmittel mit entsprechenden veralteten Messergebnissen beworben werden, enthalten nach neueren Erkenntnissen kaum bioverfügbares B12.73 Die Bewerbung von Spirulina als gute B12-Quelle gilt spätestens seit dem Urteil des Oberlandesgerichts Hamm aus dem Jahr 2010 ohnehin als unlauterer Wettbewerb.74 Auch der Dachverband der Verbraucherzentralen macht deutlich, dass neben der Spirulina auch die Afa-Alge nicht als B12-Quelle herangezogen werden sollte.75 Die Testergebnisse zum B12– Gehalt der Afa-Alge sind zwar widersprüchlich,Th77 aber im Falle der Afa-Alge wird auch unabhängig vom B12-Gehalt generell vom Verzehr abgeraten, weil diese Alge dazu neigt, für den Menschen giftige Algentoxine zu bilden.78 Spirulina ist hingegen bei korrekter Produktion ein nährstoffreiches, ungefährliches Lebensmittel, aber gemäß den aktuellen Daten eben kein adäquater B12-Lieferant.
Um eine bessere Unterscheidung der unterschiedlichen Cobalamine sowie ihrer Wirksamkeit für den Menschen zu gewährleisten, empfiehlt der Algenforscher Jörg Ullmann als bessere Alternative eine Methode namens »Flüssigchromatographie mit Massenspektrometrie Kopplung« (LC/MS).79 Diese hat auch bereits in Untersuchungen zur Messung des B12-Gehalts in Säuglingsnahrung sehr genaue, differenzierte Ergebnisse in der Unterscheidung unterschiedlicher Cobalaminarten geliefert.80 So könnte sie auch ähnlich differenzierte Ergebnisse bei anderen vermeintlichen B12-Quellen wie Algen und fermentierten Lebensmitteln liefern. Wichtig in Bezug auf die Thematik der Bioverfügbarkeit von B12 in Algen scheint ferner deren Verarbeitung zu sein. So konnte eine Untersuchung in der rohen Nori zu 73 % bioverfügbares Vitamin B12 feststellen, während in der getrockneten Nori ganze 65 % der Cobalamine B12-Analoga waren. Die Wissenschaftler schlussfolgerten daher, dass sich die Cobalamine in der Nori während des Trocknungsprozesses von überwiegend bioverfügbaren Cobalaminen zu überwiegend nicht-bioverfügbaren Cobalaminen wandeln.81 Dieser Umstand könnte ein weiteres Erklärungsmodell für die vielen widersprüchlichen Ergebnisse bei B12-Messungen an Algen sein.
Die Herausforderungen in den Bestimmungsmethoden, die Veränderungen der Algen-Cobalamine während der Verarbeitung und weitere Einflussfaktoren führen also dazu, dass eine Bestimmung der B12-Wirksamkeit in Algen alles andere als einfach ist. Letztlich müssen aber ohnehin Tests am Menschen beweisen, dass diejenigen Algen, in denen man aktives B12 vermutet, auch tatsächlich funktionieren.
Eine Mikroalge hat unter all den potenziellen B12– Lieferanten seit Jahren eine ganz besondere Stellung und es scheint von Jahr zu Jahr klarer zu werden, dass sie große Mengen an bioverfügbarem Vitamin B12 enthält. Die Rede ist von Chlorella. Die Mikroalge gehört zu den am besten untersuchten Pflanzen der Welt und enthält neben einem sehr hohen Proteinanteil mit hoher biologischer Wertigkeit auch den höchsten bis dato gemessenen Anteil an Chlorophyll unter allen Pflanzen. 82
Eine Untersuchung der unterschiedlichen Cobalamine in der Chlorella ergab, dass in 100 g Chlorella bis zu 200 µg bioverfügbares B12 enthalten sein kann. Der Anteil an Adenosylcobalamin war dabei mit 76 % der höchste, gefolgt von Methylcobalamin in Höhe von 14 % sowie Hydroxocobalamin mit 10 %.83 Andere Untersuchungen konnten in der Chlorella hingegen große Mengen an Methylcobalamin finden. 84 In einer ersten kleinen Untersuchung am Menschen zur Wirksamkeit von Chlorella erhielten drei Probanden für ein Jahr lang täglich 8 g getrocknete Chlorella und deren Blutwerte wurden alle drei Monate gemessen. Wie sich herausstellte, verbesserte sich durch die Einnahme der Chlorella der Spiegel an Gesamt B12 sowie der Homocystein-Wert bei den Teilnehmern. Beide Werte sind allerdings anfällig für Störfaktoren und so liefert diese Untersuchung neben der zu kleinen Probandenanzahl auch aufgrund des Fehlens der Holo-TC oder Methylmalonsäuremessung zur B12-Bestimmung keine eindeutigen Daten. In einer weiteren Untersuchung mit 17 Veganern konnten die Methylmalonsäure-Werte durch die Gabe von 9 g Chlorella innerhalb von 60 Tagen um etwa ein Drittel verbessert werden und auch der gemessene Homocysteinspiegel verbesserte sich um 10 %. 86 Relativierend muss gesagt werden, dass dies nicht bedeutet, dass jede Chlorella eine gute B12-Quelle darstellt. Die in Untersuchungen gemessenen B12-Werte schwankten bei Chlorella zwischen null und mehreren hunderten Mikrogramm (µg) pro 100 g. Somit heißt das lediglich, dass die Chlorella unter den richtigen Bedingungen große Mengen an B12 enthalten könnte, und nicht, dass jede im Handel erhältliche Chlorella derartige Mengen enthält. 87 Vor allem der Anbau der Chlorella spielt eine wichtige Rolle. Da es unterschiedliche Anbauarten gibt, finden sich auch sehr unterschiedliche B12-Werte in Abhängigkeit zur Anbauweise in offenen Becken oder Fermentern. 88 Da der größte Teil der restlichen Algenarten hinsichtlich ihres B12-Gehalts noch zu wenig erforscht ist, können erst zukünftige Forschungsarbeiten in den kommenden Jahren mehr Aufschluss geben. Solange keine weiteren belastbaren Humandaten zum Thema Algen und B12 aus größeren Untersuchungen mit besserem Studiendesign vorliegen, empfiehlt sich definitiv weiterhin die einfachere, sicherere, günstigere und sehr gut erforschte Zufuhr von B12 über Nahrungsergänzungsmittel. Dennoch sind derartige Ergebnisse von großer Bedeutung. Sobald zukünftig nämlich mit den richtigen Bakterienkulturen fermentierte Pflanzenjoghurts, fermentiertes Gemüse sowie einige Algen als natürliche pflanzliche B12-Quelle erhältlich sind, wäre das Totschlagargument der Unnatürlichkeit gegen eine vegane Lebensweise noch irrelevanter als es das ohnehin bereits jetzt ist.
Mangelkandidaten
Weil B12 im Organismus so viele unterschiedliche Aufgaben erfüllt, kann sich ein Mangel in sehr verschiedenen Formen zeigen. Häufig erlebte leichte Mangelsymptome sind Kraftlosigkeit, Erschöpfung, Stimmungsschwankungen, Schlaflosigkeit und Immunschwäche. Bei andauerndem Mangel können diese zu schweren Mangelsymptomen wie Verwirrtheit, Taubheit in den Gliedmaßen bis hin zu Lähmungen sowie Koordinations- und Sehstörungen führen.89
Vitamin-B12-Mangel ist zwar keine Volkskrankheit in westlichen Ländern, so wie es in manchen Veröffentlichungen dargestellt wird, aber dennoch sollten sich nicht nur vegan lebende Menschen Gedanken über ihre adäquate Versorgung machen. Verwendet man sensible Testmethoden wie Halo-TC, die entstehende Mängel frühzeitig und genauer diagnostizieren können, sind subklinische B12-Mängel weiter verbreitet als bisher angenommen.90 Der Körper hat allerdings einen sehr großen B12-Speicher, von dem Menschen lange Zeit zehren können, sofern er gut gefüllt ist. Der Gesamtspeicher im menschlichen Körper beträgt beim Erwachsenen etwa 3.000 µg und bei Kindern je nach Alter etwa 30-50 µg.21 Da der Organismus äußerst effektiv in der Wiederverwertung von B12 ist, kann es trotz fehlender B12-Zufuhr über die Nahrung oder Nahrungsergänzungsmittel bei normal gefülltem Speicher bei Erwachsenen mehrere Jahre dauern, bis sich erste Mangelsymptome bemerkbar machen.92 Man geht davon aus, dass der Körperspeicher an Vitamin B12 nicht unter 300 µg sinken sollte, um Mangelsymptome zu vermeiden.93 Bei vollgefülltem Speicher in Höhe von 3.000 µg dauert es bei einem durchschnittlichen B12-Bedarf mehrere Jahre, bis die Körperspeicher tatsächlich auf dieses Minimum gesunken sind.
Waren die Speicher allerdings vor dem Umstieg auf eine vegane Ernährung bereits mangelhaft gefüllt, weil man davor bereits lange vegetarisch gelebt oder nur sehr wenig tierische Produkte gegessen hat, kann ein Mangel schon wesentlich früher eintreten. Man sollte es aber so oder so auf gar keinen Fall darauf ankommen lassen, sondern schon direkt beim Umstieg zu einer vegetarischen oder veganen Ernährung mit einer ausreichenden B12-Supplementierung beginnen. Vor allem vegetarisch lebende Menschen denken oft nicht an ihre B12-Supplementierung, weil sie der Meinung sind, dass sie über Milch und Eier automatisch genügend B12 erhalten. Allerdings bewegen sich Vegetarier mit durchschnittlich 1,7- 2,5 µg täglicher B12-Zufuhr am unteren Ende der Empfehlung und sie nahmen in den Untersuchungen nur etwa ein Drittel der Menge an B12 im Vergleich zu den Mischköstlern auf.94 Eier sind zudem keine verlässliche B12-Quelle.
Ein Ei liefert zwar 0,9-1,4 µg Vitamin B12, wovon der Großteil im Eidotter vorhanden ist, aber die Bioverfügbarkeit ist äußerst gering. Die Bioverfügbarkeit des gesamten B12 im Ei beträgt bei einer Aufnahme von 100 g nur etwa 4-9 % und sinkt bei größerer Aufnahmemenge pro Mahlzeit aufgrund der Sättigung der Rezeptoren noch weiter ab.95,96 Die Bioverfügbarkeit von Eiern ist also um ein Vielfaches geringer als jene in der Milch (55-65 % in Fleisch (56-77%) oder im Fisch (38-42 %).97 Um anhand dieser Ergebnisse auch nur die Mindestempfehlungin Höhe von 4 µg täglich zu erreichen, müsste man jeden Tag also mehrere Kilo Eier essen. Von daher sind Vegetarier ebenso gut beraten, auf ihren B12-Spiegel zu achten und in vielen Fällen aus Gründen der Vorsicht zu supplementieren.
Darüber hinaus empfehlen die amerikanischen National Institutes of Health (NIH)98 und das Institute of Medicine (IOM)99 unabhängig vom Fleischkonsum allen Personen über 50 Jahren, den Großteil ihres B12 über angereicherte Lebensmittel oder Supplemente zuzuführen. Der Grund hierfür ist die schlechtere Aufnahme von B12 aus Lebensmitteln mit steigendem Alter. Natürlich in Nahrungsmitteln vorkommendes B12 ist zumeist an Protein gebunden und muss erst während des Verdauungsvorgangs vom Protein gelöst werden, um weiter versto:ffwechselt zu werden. Dies kann im höheren Alter zum Teil nur eingeschränkt passieren, weshalb sich eine Nahrungsergänzung mit B12 empfiehlt. In Nahrungsergänzungsmitteln ist das B12 nämlich nicht an Proteine gebunden. Es liegt vielmehr in freier Form vor und kann damit von älteren Personen meistens besser aufgenommen werden. Außerdem kommt es in Nahrungsergänzungsmitteln meist in wesentlich höherer Konzentration vor und kann so zusätzlich eventuelle Resorptionseinbußen kompensieren.
Zudem gibt es eine Reihe von Medikamenten, die die B12– Absorption verringern bzw. den Bedarf erhöhen. Personen, die eine oder mehrere dieser Arzneimittel über einen längeren Zeitraum hinweg einnehmen, sollten ein besonderes Augenmerk auf ihre B12-Versorgung legen. Folgende Medikamente zählen unter anderem zu dieser Gruppe: 100,101
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Protonenpumpenhemmer zur Hemmung der Magensäure, wie z. B. Omeprazol
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Histamin-H2-Rezeptor-Antagonisten zur Hemmung der Magensäurebildung, wie z. B. Cimetidin
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Medikamente zur Blutzuckersenkungbei Diabetes, wie z.B. Metformin
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Blutdrucksenkende Medikamente (ACE-Hemmer), wie z.B.
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Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen, Betablocker
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Cholesterinsenkende Medikamente, wie Statine
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Medikamente gegen Gicht, wie z. B. Cholcicin
wi.e
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Antazida zur Neutralisierung der Magensäure bei Sodbrennen
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Antiepileptika zur Behandlung von Epilepsie
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Orale Kontrazeptiva zur Empfängnisverhütung (»Anti Baby-Pillen«)
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Breitbandantibiotika, wi.e z. B. Neomycin,
Chloramphenicol etc.
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Entzündungshemmende Arzneien bei Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, wie z. B. Asacol
Neben diesen Arzneimitteln gibt es auch Hinweise darauf, dass sehr hohe Dosen an Vitamin C die B12-Aufnahme reduzieren können, weil sie Teile des B12 zerstören bzw. in nicht wirksame Analoga umwandeln. So wurde bereits 1974102 zum ersten Mal die Vermutung geäußert, dass hohe Dosen an Vitamin C bei gleichzeitiger Einnahme von B12 einen negativen Einfluss auf den B12-Haushalt haben könnten und auch im Jahr 2014 konnte dies erneut bestätigt werden.103 Um auf Nummer sicher zu gehen, sollten Nahrungsergänzungsmittel mit hohen Dosen an Vitamin C im Abstand von mindestens vier Stunden zur Vitamin-B12– Einnahme zugeführt werden. Dies dürfte in erster Linie Ergänzungsmittel mit einem Vielfachen des Tagesbedarf betreffen und nicht die verhältnismäßig geringen Mengen an Vitamin C in Lebensmitteln. Außerdem können gewisse Erkrankungen die B12-Aufnahme verringern bzw. den Bedarf erhöhen und somit eine höhere Zufuhr an B12 notwendig machen. Dazu zählen unter anderem:104
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Zölliakie
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Tumorerkrankungen des Verdauungstraktes
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Morbus Crohn
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Chronische Gastritis
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Gastrektomie bzw. Magenresektion (teilweise/ganze Magenentfernung)
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Alkoholismus
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Fischbandwürmer
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Leberinsuffizienz
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Bauchspeicheldrüseninsuffizienz
Wie man anhand der Liste erkennt, birgt die Einnahme von unterschiedlichen Medikamenten, die in vielen Fällen auch dauerhaft eingenommen werden, ein erhebliches Risiko für die Versorgung mit B12. Obwohl es auf den Packungsbeilagen der meisten Arzneimittel nicht ausführlich beschrieben steht, scheinen eine Reihe an Medikamenten neben den auf der Packungsbeilage aufgeführten Nebenwirkungen noch zu Einbußen bei der Mikronährstoffversorgung zu führen. Mehr zu diesem wichtigen Thema kann für die gängigen Medikamente und die wichtigsten Nährstoffe im Standardwerk »Arzneimittel und Mikronährstoffe« von Uwe Gröber nachgelesen werden.105
Ferner ist es wenig bekannt, dass eine Narkose mit Lachgas große Mengen Vitamin B12 abbaut.106 Das ist kein großes Problem, wenn die Speicher davor gut gefüllt wurden und nach der Narkose erneut rasch aufgefüllt werden. Sollten die Speicher aber bereits davor nicht gut gefüllt gewesen sein und die Verluste auch danach nicht mit hochdosierten Präparaten kompensiert werden, kann dies dramatische Folgen haben und erklärt vielleicht auch so manche Komplikation nach einer Operation, auf die man ansonsten keine befriedigende Antwort findet. Der Arzt Dr. Robert Schilling, der den gleichnamigen »Schilling-Test« zur Prüfung der Absorptionskapazität von B12 bei Patienten entwickelt hat,107 stellte bereits im Jahr 1986 in einer Veröffentlichung die wichtige Frage: Ist eine Narkose mit Lachgas gefährlich für Patienten mit Vitamin-B12-Mangel?108
Wie Fallberichte aus den letzten 30 Jahren zeigen, muss man diese Frage bejahen und so manch eine irreversible Störung hätte vermutlich verhindert oder therapiert werden können, wenn mehr Menschen darüber Bescheid wüssten.
So berichtete eine medizinische Fachzeitschrift im Jahr 2000 von einem 69-jährigen ehemaligen Metzger, der einen Routineeingriff an der Prostata unter Narkose mit Lachgas vornehmen ließ. Innerhalb der ersten zwei Wochen nach der Operation traten vermehrt Gangunsicherheit und Taubheit in seinen Beinen auf. Aufgrund von Problemen mit seiner Gallenblase musste er sich in den Folgewochen erneut einer Narkose mit Lachgas unterziehen und trotz seiner geschilderten Symptome nach der ersten Operation wurde kein B12-Test durchgeführt. Als er aus der zweiten Narkose erwachte, war er verwirrt und das anfänglich leichte Taubheitsgefühl in seinen Beinen wurde wöchentlich stärker. Innerhalb der kommenden vier Monate verstärkte sich das Taubheitsgefühl und führte schließlich zu einer kompletten Lähmung von der Hüfte abwärts. Er wurde inkontinent, vergesslich und zeigte schließlich erste Anzeichen einer beginnenden Demenz. Nach weiteren drei Monaten auf seinem Leidensweg wurde endlich der schwere B12-Mangel diagnostiziert, der durch die Narkose mitverursacht wurde. Trotz einer hochdosierten B12-Zufuhr und umfangreicher Physiotherapie konnten aufgrund der Länge der B12–Unterversorgung die Schäden nicht gänzlich reversiert werden und so konnte er auch nach über einem Jahr nur kurze Strecken ohne fremde Hillfe zurücklegen.109
Ein erfreulicheres Ende nahm die Geschichte einer 47- jährigen ehemaligen Balletttänzerin, die während einer achtstündigen Schönheitsoperation mit Lachgas narkotisiert wurde. Sie erholte sich in den Folgewochen gut vom Eingriff, doch nach etwa sechs Wochen hatte sie Gleichgewichtsprobleme, verspürte seltsame Taubheit in ihren Gliedmaßen und fühlte sich sehr schwach. Nachdem sie aufgrund ihres unsicheren Ganges hingefallen war und untersucht wurde, wurde bei ihr ebenfalls ein schwerer Lachgas-induzierter B12-Mangel festgestellt, der sofort mit hochdosierten Injektionen behandelt wurde.
Glücklicherweise konnte der Mangel in ihrem Fall früh genug festgestellt werden. Nach 16-wöchiger B12-Therapie blieb von all ihren Symptomen nur noch eine leichte Abgeschlagenheit übrig.110 Diese und viele weitere gut dokumentierte Fallberichte von Personen, die in vielen Fällen nicht vegetarisch oder vegan lebten, zeigen die Ernsthaftigkeit der Lage und machen deutlich, dass Vitamin B12 auch für Mischköstler zum Problem werden kann, vor allem wenn diese eine bis dato unentdeckte Absorptionsstörung oder andere Beeinträchtigungen in der B12-Verwertung aufweisen.
Nahrungsergänzung: Was und wie viel?
Die erste Wahl, die man treffen muss, ist die Form des Supplements. Hier kann man aus einer Vielzahl von Formen wie Lutschtabletten, Kapseln, Tropfen, Zahnpasta, Kaugummi, Nasensprays, Injektionen und unterschiedlichen angereicherten Lebensmitteln wählen. In den meisten Fällen entscheidet die persönliche Vorliebe darüber, auf welche Art und Weise man B12 einnehmen möchte, weil grundsätzlich alle Varianten bei den meisten Menschen funktionieren. Für Kinder, die Schwierigkeiten haben, eine Tablette zu schlucken, sind Tropfen sehr gut geeignet. Wer zu Vergesslichkeit neigt und so das B12-Präparat nicht regelmäßig nehmen würde, kann eine B12-haltige Zahnpasta wählen. Nasensprays, Kaugummis und e1n1ge weitere Anwendungen werden in Deutschland, Österreich und der Schweiz weniger häufig angeboten, daher ist die Produktauswahl in diesem Segment verhältnismäßig klein. Injektionen sind in manchen Fällen bei akutem, schwerem Mangel durch stark beeinträchtigte Resorptionsfähigkeit eine gute Wahl, um den Speicher sofort wieder zu füllen. Untersuchungen zeigen aber, dass der orale Weg bei hochdosierten Präparaten für die allermeisten Personen ebenso effektiv und dabei weniger aufwändig und weniger unangenehm als eine Injektion ist. 138
Kapseln und Lutschtabletten sind in vielen Fällen auch die günstigere Variante. Tropfen und Lutschtabletten haben den Vorteil, dass durch die längere Verweildauer im Mundraum über die Mundschleimhaut zusätzliches B12 aufgenommen werden kann. Das wiederum kann vor allem für Malabsorber, also jene Menschen mit schlechter B12-Aufnahme im Dünndarm, theoretisch von Vorteil sein. Wie allerdings eine vergleichende Untersuchung mit Personen mit B12-Mangel ergeben hat, gab es keine nennenswerten Unterschiede bei der Einnahme von B12 in der Höhe von 500 µg zwischen der sublingualen Einnahmeweise, in der die Lutschtablette unter der Zunge aufgelöst wurde, und der klassischen oralen Einnahme, bei der eine Kapsel einfach geschluckt wurde.139 In einer älteren Studie waren hingegen die Unterschiede bei der Einnahme von 100 µg groß und nur die Gruppe mit den sublingualen B12-Tabletten konnte ihren B12-Status optimieren.140
Dass auch die Verwendung B12-haltiger Zahnpasta zu funktionieren scheint, wurde in einer zwölfwöchigen Untersuchung mit einer Gruppe von 76 veganen Probanden getestet. Diese Untersuchung teilte die Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip in zwei Gruppen ein. In der einen Gruppe bekamen die Probanden die B12-haltige Zahnpasta und in der anderen eine gleich aussehende und identisch schmeckende Zahnpasta ohne Vitamin B12 als Placebo.141 Wenn die Zahnpasta funktionieren würde, müsste in der B12-Gruppe der Serum-B12-Wert sowie der Halo-TC-Wert steigen und die Methylmalonsäure und das Homocystein sinken, während in der Placebogruppe das genaue Gegenteil passieren müsste. Genau dieser Fall ist in der Untersuchung eingetreten, und so kann man davon ausgehen, dass mit B12 angereicherte Zahnpasta ebenfalls wirksam ist. Im Grunde können auch angereicherte Lebensmittel eine gute Variante sein, um im Rahmen der täglichen Ernährung genügend B12 aufzunehmen, ohne über das Schlucken einer Pille nachdenken zu müssen. Eine Anreicherung findet in Deutschland, Österreich und der Schweiz aktuell (Stand September 2020) im Gegensatz zu den USA und anderen Ländern aber nicht in entsprechendem Maß statt. Abseits von wenigen Produkten wie manchen Frühstückscerealien, Fruchtsäften und Energydrinks ist sie nicht üblich. Angereicherte Lebensmittel wie B12-Pflanzenmilch enthalten zudem oft zu geringe Mengen an B12 zur kompletten Tagesbedarfsdeckung. Da der Herstellung von
und häufig in Nahrungsergänzungsmitteln verwendeten Bioprodukten die Anreicherung mit Vitaminen nicht zulässig ist (Stand September 2018), 142 gibt es außerdem überhaupt keine biologische Pflanzenmilch mit B12. Die konventionellen B12-Pflanzendrinks enthalten allerdings auch nur knapp 0,4 µg/100 ml. Damit müsste man täglich mindestens 750 ml angereicherte Pflanzenmilch für den Mindestbedarf von 3 µg zu sich nehmen, sofern man die Gesamtzufuhr auf mindestens zwei zeitversetzte Portionen aufteilt, um die Absorptionsrate zu optimieren. Es empfiehlt sich stattdessen, auf ein gut dosiertes Nahrungsergänzungsmittel zurückzugreifen.
Verschiedene Arten von B12
Neben der Form der Darreichung stellt sich außerdem die Frage nach der optimalen Form von B12. Die vier relevanten Formen sind das Cyanocobalamin, Methylcobalamin, Adenosylcobalamin und Hydroxocobalamin. Auf vielen Webseiten, in Magazinen und Büchern sowie in Blogs und Foren wird Methylcobalamin oder ein anderes natürliches Cobalamin als die einzig gute Art von B12 beworben. Anhand der verfügbaren Daten lässt sich mit sehr wenigen Ausnahmen aber nicht bestätigen, dass die natürlich vorkommenden Cobalamine dem synthetischen Cyanocobalamin in relevantem Maße überlegen sind.143,144 Manche Veröffentlichungen sprechen sich dennoch weiterhin für eine etwas bessere Aufnahme und Verwertbarkeit von Methylcobalamin im Vergleich zu Cyanocobalamin aus.145 Andere Untersuchungen legen dagegen nahe, dass man nicht alleine Methylcobalamin, sondern entweder Cyanocobalamin, Hydroxocobalamin oder eine Kombination aus Methyl- und Adenosylcobalamin einnehmen sollte.146 Wieder andere empfehlen mit Nachdruck die Verwendung von Hydroxocobalamin.147 Auch die WHO, die in den 1970ern in ihrer Liste der unentbehrlichen Arzneimittel für das Gesundheitswesen noch Cyanocobalamin als Mittel der Wahl auflistete,148 empfiehlt mittlerweile stattdessen Hydroxocobalamin.149 Auch unter den veganen Ernährungsmedizinern und Diätologen besteht in dieser Fragestellung keine große Einigkeit. Einige von ihnen raten explizit zur Verwendung von Cyanocobalamin mit der Begründung, dass es die am besten erforschte und stabilste Form ist.150,151,152 Andere raten wiederum zur Verwendung von Methylcobalamin153,154 und einige andere betonen, dass keine eindeutigen Vorteile in Bezug auf die eine oder andere Form vorliegen.155,156 Auch die National Institutes of Health (NIH) sehen keine relevanten Unterschiede in der Wirkung unterschiedlicher Cobalamin Arten.157 Während also in wissenschaftlichen Kreisen zumeist keine klare Empfehlung hin zu einer speziellen Form von B12 ausgesprochen wird, vertreibt der überwiegende Teil der Händler zumindest in Deutschland Methylcobalamin oder Mischformen. Cyanocobalamin ist selten geworden, obwohl es keine klaren Indizien gibt, dass es tatsächlich schlechter für die Durchschnittsbevölkerungist.
Cyanocobalamin
Cyanocobalamin ist von allen Cobalaminarten bis heute das besterforschte und seine Wirksamkeit wurde in vielen Studien nachgewiesen.158 Es ist durchaus richtig, dass Cyanocobalamin eine synthetische Form von B12 ist, die so in der Natur nicht vorkommt.159 Dieser Umstand macht es aber noch nicht automatisch schlecht. Im Gegenteil, Cyanocobalamin bietet sogar einen sehr entschiedenen Vorteil: Es ist wesentlich unempfindlicher gegenüber Licht und stabiler als andere Cobalamine.160 Neben dem günstigeren Preis ist das der Grund, warum in angereicherten Lebensmitteln sowie in der B12-Zahnpasta Cyanocobalamin enthalten ist. Der Körper der allermeisten Menschen kann Cyanocobalamin einwandfrei in die beiden benötigten Coenzym-Formen Methylcobalamin und Adenosylcobalamin umwandeln.161
Menschen mit einer Nierenfunktionsstörung können allerdings tatsächlich ein Problem mit Cyanocobalamin haben, weil für sie selbst die sehr geringen Mengen an anfallendem Cyanid über das Cyanocobalamin schädlich sein könnten.162 Alle anderen Menschen haben mit den derart geringen Mengen an Cyanid aber keine Schwierigkeit. Es gibt allerdings auch noch einen seltenen genetischen Defekt, der verhindert, dass der Körper der Betroffenen das Cyanid sachgemäß vom Grundgerüst des Cobalamins entfernen kann.163 Bei diesem Gendefekt wirkt Hydroxocobalamin besser und sollte daher das Mittel der Wahl sein. Außerdem wird in manchen Veröffentlichungen geschrieben, dass Raucher kein Cyanocobalamin verwenden sollten, da sie über Zigaretten bereits mehr Cyanid als der Durchschnitt aufnehmen.164 Obwohl von offizieller Stelle keine separate Empfehlung für andere B12-Präparate für Raucher ausgesprochen wird,165 ist es sicherheitshalber auch für Raucher empfehlenswert, ein B12-Präparat ohne Cyanocobalamin zu beziehen. Noch besser wäre es allerdings, mit dem Rauchen aufzuhören.
Methylcobalamin und Adenosylcobalamin
Wie zu Beginn dieses Kapitels beschrieben, ist B12 im menschlichen Körper lediglich in Form der Coenzyme Methylcobalamin und Adenosylcobalamin aktiv. Sowohl Cyano- als auch Hydroxocobalamin müssen erst in diese beiden Formen umgewandelt werden. Adenosylcobalamin ist direkt nach Hydroxocobalamin das zweithäufigste in Lebensmitteln vorkommende Cobalamin, wohingegen die Mengen von Methylcobalamin in den meisten untersuchten Lebensmitteln recht gering sind.166 Da in Deutschland vor allem Präparate mit Methylcobalamin verkauft werden, stellt sich die Frage, ob der Organismus aus Methylcobalamin auch das zweite wichtige Coenzym, Adenosylcobalamin, bilden kann. Da beide unerlässlich sind, wäre ein Präparat mit lediglich Methylcobalamin unzureichend, wenn der Körper es nicht zu Adenosylcobalamin umwandeln könnte. Auch in dieser Fragestellung herrscht keine Einigkeit. Während manche Wissenschaftler die beliebige Austauschbarkeit unter den einzelnen Arten von Vitamin B12 anzweifeln,167 legen andere Untersuchungen nahe, dass dies durchaus möglich ist.168
Hydroxocobalamin
Hydroxocobalamin ist das am häufigsten in Lebensmitteln vorkommende Cobalamin.169 Zum aktuellen Zeitpunkt ist es in Nahrungsergänzungsmitteln noch wenig verbreitet. Im direkten Vergleich mit anderen Cobalaminen scheint es eine etwas bessere Depotwirkung zu haben und die beste Alternative für alle Menschen zu sein, die vorsichtshalber auf Cyanocobalamin verzichten sollten.170
Vor allem starke Raucher, die über Zigaretten ohnehin mehr Cyanid als der Durchschnitt aufnehmen,171 scheinen durch die Gabe von Hydroxocobalamin eine größere Menge an Cyanid über den Urin auszuscheiden.172 So können sie die durch den Zigarettenrauch entstandene Belastung mit Cyanid im Körper effektiver senken.
Hydroxocobalamin muss ebenso wie Cyanocobalamin erst in Adenosyl- und Methylcobalamin umgewandelt werden, weil nur jene beiden Coenzymformen im Körper wirksam sind. Dies scheint wie dargelegt aber möglich zu sein und so wird Hydroxocobalamin in einigen Veröffentlichungen als die erste Wahl in der B12-Supplementierung genannt.173,174
Konkrete Empfehlungen
Ebenso wie es viele Wege hin zu einer bedarfsdeckenden veganen Ernährung im Allgemeinen gibt, existieren auch mehrere Wege, eine adäquate B12-Versorgung zu gewährleisten. Gemäß der Datenlage führt für die meisten Menschen jedes B12-Supplement, ganz gleich ob Cyano-, Methyl-, Adenosyl- oder Hydroxocobalamin, in der richtigen Dosis zum gewünschten Erfolg. Wenn man dabei Zahnpasta oder angereicherte Lebensmittel verwendet, wird man ohnehin nur Cyanocobalamin aufnehmen, weil dies die aktuell gängige Art der B12-Anreicherung bei diesen Produkten ist. Wenn man sich für eine Quelle mit Cyanocobalamin entscheidet und nicht zu den wenigen Individuen gehört, die es nicht korrekt verstoffwechseln können, wird es nach dem heutigen Kenntnisstand ebenso wirksam und ungefährlich sein wie alle anderen Formen. Sollte man zu einer der genannten Risikogruppen gehören oder aus anderen Gründen kein Cyanocobalamin verwenden wollen, ist Hydroxocobalamin eine gute Alternative. Darüber hinaus gibt es auch Kombinationspräparate mit einer Mischung unterschiedlicher Cobalaminen als sogenannte MHA-Formel, die Methyl,- Hydroxo- und Adenosylcobalamin enthalten. Da der Organismus vermutlich auch aus Methylcobalamin das benötigte Adenosylcobalamin produzieren kann, wird nach aktuellem Kenntnisstand auch ein Präparat, das ausschließlich Methylcobalamin enthält, seinen Zweck erfüllen.
Die Höhe der täglichen 812-Zufuhr
Personen, die alters- oder medikationsbedingt Schwierigkeiten mit der Absorption von B12 im Dünndarm haben, sollten das Nahrungsergänzungsmittel mit einem Abstand von mindestens einer Stunde vor oder nach dem Essen und nicht zeitgleich zu den Mahlzeiten einnehmen. 175 Dadurch kann sichergestellt werden, dass das freie B12 im Präparat nicht an andere Bestandteile im Nahrungsbrei gebunden wird und damit schlechter verfügbar ist. Für diese Personen kann ein Präparat geeignet sein, das sublingual unter der Zunge aufgelöst wird, um auch einen Teil der Aufnahme über die Mundschleimhaut zu gewährleisten.
Wenn man zum Großteil der Menschen gehört, die B12 gut absorbieren können, kann man sich frei für jede beliebige Variante der B12-Zufuhr entscheiden und muss auch die Abstände zu den Mahlzeiten nicht zwingend einhalten. Die Höhe der Dosierung wird dabei vom Alter und der Absorptionsfähigkeit der jeweiligen Person beeinflusst. Außerdem wird der Rhythmus der Einnahme einen entscheidenden Einfluss auf die Menge der Zufuhr haben, da mit der Höhe der Zufuhr die prozentuale Aufnahme sinkt.176 Absolut gesehen wird selbstverständlich mit steigender Zufuhrmenge mehr absorbiert, aber die Ausscheidungsverluste werden immer größer und so sinkt die prozentuale Aufnahme. Das hat aber nichts damit zu tun, ob man nun B12 mit einem tierischen Lebensmittel, einem angereicherten pflanzlichen Lebensmittel oder einem Nahrungsergänzungsmittel zu sich nimmt. Hier spielt einzig und allein die Höhe der Zufuhr eine Rolle. Pro Mahlzeit (oder pro Einnahme eines Supplements) kann der Körper nur etwa 1,5-2 µg B12 aktiv aufnehmen.177
Erst nach etwa 4-6 Stunden ist der Körper wieder in der Lage, diese Menge erneut über seine aktiven Transportsysteme aufzunehmen.178 Daher kann man mehr B12 absorbieren, wenn man die Dosen auf mehrere Male mit ausreichend zeitlichem Abstand aufteilt. Da dies aber meist im Alltag wenig praktikabel ist, können bei einmaliger Zufuhr pro Tag einfach höhere Dosen verwendet werden, die dann zum Teil über die sogenannte passive Diffusion aufgenommen werden können. Etwa 1-3 % der Gesamtzufuhr an B12 werden nämlich auch unabhängig von den aktiven Transportsystemen über diesen Weg resorbiert und wenn die Dosis hoch genug ist, kann man allein dadurch seinen Bedarf decken.179 Die sehr begrenzte Aufnahmekapazität des Körpers ist einer der entscheidendsten Faktoren in der Bestimmung der Dosishöhe. Diese wird stark davon abhängen, ob man mehrmals täglich, einmal pro Tag oder vielleicht auch nur ein- oder zweimal die Woche B12 einnimmt. Um ein Gefühl für die benötigte Menge zu bekommen, folgt ein Rechenbeispiel: Wenn man über niedrig dosierte Supplemente oder angereicherte Getränke und Lebensmittel den täglichen B12-Bedarf decken möchte, dann sollte aufgrund der begrenzten Aufnahmefähigkeit pro Zeiteinheit eine Zufuhr an mehreren Zeitpunkten des Tages erfolgen. Wenn man von einem Minimalbedarf von 4 µg als erwachsene Person ausgeht, wäre es sinnvoll, jeweils zweimal täglich 2 µg B12 aufzunehmen und dazwischen mindestens vier Stunden Abstand zu halten.
Wenn man die Einnahme auf einmal täglich beschränken möchte, dann benötigt man ein Präparat, das hoch genug dosiert ist, um neben den 2 µg der aktiven Aufnahme durch die 2 % der passiven Diffusion die restlichen 2 µg des Tagesbedarfs decken zu können. Bei einer zweiprozentigen passiven Diffusion wäre die Dosis zum Erreichen von 2 µg eine Menge von 100 µg. In dieser Rechnung sind bereits Sicherheitspuffer enthalten, weshalb eine Mindestzufuhr von 100 µg zum Erreichen des Tagesbedarfs von 4 µg ausreicht. Wenn man weiß, dass man aufgrund einer verminderten Aufnahmefähigkeit durch Operationen am Magen-Darm Trakt, durch die Dauereinnahme bestimmter Medikamente oder durch ein höheres Alter (ab 50+) Vitamin B12 schlechter aufnehmen kann, zieht man in der Gleichung einfach die 2 µg für die aktive Aufnahme ab. Das wären bei einer täglichen Zufuhr mit einer zweiprozentigen passiven Diffusion 200 µg. Wenn man nur einmal die Woche supplementieren möchte, errechnet man den Mindestbedarf an B12 von sieben Tagen (28 µg), zieht davon die 2 µg der aktiven Aufnahme der Einmaldosis ab und errechnet erneut, wie hoch die Dosis sein muss, damit 2 % von ihr die restlichen 26 µg decken kann. Das sind 1.300 µg. Je nachdem, ob man einmal pro Tag oder einmal wöchentlich supplementiert, wird die empfohlene Einnahmemenge also völlig verschieden aussehen. Nachfolgend findet man nochmals den oben beschriebenen Rechenweg:
Abb. 18: Formeln zur Berechnung der B12-Tages- und Wochendosis
Einmal täglich:
2 + (X*0,02) = 4 µg
Einmal täglich (ohne aktive Aufnahme):
X*0,02 = 4 µg
Einmal wöchentlich:
2 + (X*0,02) = 28 µg
Bei der Nahrungsergänzung mit B12 besteht kaum Grund zur Sorge vor Überdosierung, denn B12 hat sich als wasserlösliches Vitamin in vielen Untersuchungen als untoxisch gezeigt. Selbst bei einer täglichen Zufuhr von 3.000 µg über lange Zeiträume hinweg sind keinerlei Nebenwirkungen aufgetreten. 180 Daher wurde auch von offizieller Stelle, wie der European Food Safety Authority (EFSA), kein Upper Level (UL), also keine definierte Obergrenze für die tägliche Einnahme festgelegt.181 Obwohl Vitamin B12 in großer Menge von bis zu 5.000 µg im Körper gespeichert werden kann,182 wird ein Überschuss des wasserlöslichen Vitamins einfach über den Urin ausgeschieden.183 Tab. 6 zeigt die Empfehlung zur Höhe der Dosierung bei Einnahme eines Nahrungsergänzungsmittels mit B12 auf täglicher Basis. Dabei wurden jeweils Spannen für unterschiedliche Dosierungshöhen angegeben, da zum einen die zuvor vorgestellte Formel nur eine ungefähre Orientierungshilfe und keine exakte und für jede Person gültige Zufuhrrichtlinie darstellt und zum anderen aufgrund der geringen Toxizität von B12 auch liberaler mit der genauen Zufuhrhöhe umgegangen werden kann. Die tägliche Einnahme ist vorzuziehen, da sie so zum festen Bestandteil des Tagesablaufs werden kann. Um noch geringer dosieren zu können und die aktive Aufnahme zu optimieren, wäre es auch eine gute Möglichkeit, zweimal täglich entweder über angereicherte Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel zu supplementieren, weil dadurch deutlich geringere Mengen an B12 zugeführt werden müssen, was wiederum das Auftreten von B12-Akne (Seite 116) bei sensiblen Personen reduziert. Sollte die Supplementierung an einem Tag vergessen werden, kann am nächsten Tag einfach wieder die reguläre Menge eingenommen werden und der vergessene Tag muss aufgrund der Speicher des Körpers nicht kompensiert werden.
In einigen Untersuchungen wurden zum Erreichen optimaler B12-Werte teils höhere B12-Zufuhrmengen als die DGE-Referenzwerte benötigt184, 185 und so schadet es nicht, etwas größere Sicherheitspuffer in die B12-Dosierung bei veganer Ernährung zu integrieren. Da B12 wasserlöslich und auch in größeren Mengen nicht toxisch ist,188 stellt es kein Problem dar, wenn die Dosis nicht exakt diesen Vorschlägen entspricht und insgesamt wurden bei sämtlichen B12-Zufuhrempfehlungen bereits Sicherheitspuffer zur Kompensation interindividueller Schwankungen integriert. Säuglinge werden während der Stillzeit ausreichend über die Muttermilch mit B12 versorgt, vorausgesetzt die Mutter selbst hat keinen Mangel.189 Wenn die Beikost zwischen dem 5. und 7. Monat einen relevanten Teil der täglichen Energiezufuhr liefert, sollte hier bereits B12 bei veganer Beikost supplementiert werden.190 Da Kapseln für Kleinkinder schwierig zu schlucken sind, bietet sich in den ersten Lebensmonaten und -jahren die Zufuhr über Tropfen an. Diese können dem Essen sehr einfach kurz vor dem Verzehr beigemischt oder direkt verabreicht werden. Alternativ kann man die Kapselhüllen auch öffnen und den Inhalt in das Essen geben. Da sich die Kapselhülle durch die Magensäure ohnehin auflösen würde, macht es für die Wirkung des Nährstoffs keinen Unterschied, ob er in der intakten Kapselhülle geschluckt oder ohne Kapselhülle in die Speise gegeben wird.
In den weiteren Jahren steigt der Bedarf an B12 kontinuierlich an und ab dem 13. Lebensjahr empfiehlt die DGE für Jugendliche dieselbe Dosishöhe wie für alle Erwachsenen, die dann bis zum Erreichen des 65. Lebensjahres unverändert bleibt. Im Grunde ist der Bedarf auch für ältere Personen gleich hoch wie jener von jüngeren Erwachsenen. Wie an früherer Stelle bereits erwähnt, ist es lediglich das an Protein gebundene Vitamin B12 aus tierischen Lebensmitteln, das von älteren Personen aufgrund der hohen Gastritis-Prävalenz unter älteren Menschen in westlichen Ländern deutlich schlechter absorbiert wird.191 Vitamin B12 aus Nahrungsergänzungsmitteln ist davon aber weitestgehend nicht betroffen, weshalb in der Regel die Höhe der B12-Supplementierungsdosis bei Menschen ab dem 65. Lebensjahr nicht höher ausfallen muss als in den Jahrzehnten davor. Dennoch sollte in diesem Lebensabschnitt der B12-Spiegel etwas engmaschiger kontrolliert werden, um neu auftretende B12-Unterversorgungen frühestmöglich zu diagnostizieren.
Tab. 6: Empfehlungen für die B12-Zufuhr für beide Geschlechter nach Alter
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0 bis 4 Monate |
0,5 µg |
Bedarfsdeckung |
Bedarfsdeckung |
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durch Muttermilch |
durch Muttermilch |
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4 bis 12 Monate |
1,4 µg |
3-5 µg bei |
2 x 1-2 µg bei |
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Einführung der Beikost ab 5. bis 7. Monat187 |
Einführung der Beikost ab 5. bis 7. Monat187 |
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Kinder |
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1 bis 4 Jahre |
1,5 µg |
5-10 µg |
2 X 2-3 µg
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4 bis 7 Jahre |
2 µg |
10-20 µg |
2 X 3-4 µg
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7 bis 10 Jahre |
2,5µg |
30-50 µg |
2 X 4-5 µg
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10 bis 13 Jahre |
3,5 µg |
75-100 µg |
2 X 5-6 µg |
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Jugendliche, Erwachsene und Senioren
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13 bis 65 Jahre
65+ Jahre
4µg 4µg
100-150µg
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100-150µg
2 X 6-10 µg
2 X 6-10 µg
Schwangerschaft und Stillzeit
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Schwangere |
4,5µg |
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125-150µg |
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2x 20-30µg |
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Stillende |
5 µg |
150-200 µg |
2 x 30-40 µg |
Darüber hinaus ist in jeder Phase des Lebens (vor allem bei der Einnahme gewisser Medikamente wie Metformin bei Diabetes) eine optimale Versorgung mit Kalzium sicherzustellen, weil die Aufnahme von B12 unter anderem von der Kalziumversorgung abhängig ist.192 Da Kalzium bei veganer Ernährung ein tendenziell kritischer Nährstoff sein kann, sollte ihm auch in Bezug auf die B12-Versorgung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.193
Die vorangegangenen Empfehlungen beziehen sich auf eine Erhaltungsdosis, die bei bereits ausreichend versorgten Personen weiterhin eine gute Versorgung sicherstellt. Bei deutlich verringerten Werten kann zum schnelleren Ausgleich der Werte die Tagesdosis für vier Wochen verdoppelt werden und dann eine weiterführende tägliche Einnahme in Höhe der Referenzwerte folgen.194
Begünstigt Vitamin B12 unreine Haut?
Wie bereits erwähnt, sind selbst hohe B12-Zufuhrmengen über Nahrungsergänzungsmittel ungefährlich. Es gibt jedoch eine Nebenwirkung, die bei der Einnahme von B12– Hochdosen bei manchen Personen beobachtet wurde. Die Rede ist von sogenannter B12-induzierter Akne. Wie Untersuchungen zeigen, sind Frauen von dieser Nebenwirkung wesentlich häufiger betroffen als Männer.195 B12-Akne als Nebenwirkung hoher B12-Gaben kann dabei auch bei Personen außerhalb der Pubertät beobachtet werden. B12-induzierte Hautunreinheiten treten vor allem auf der Stirn, dem Kinn, dem oberen Rückenbereich, der Brust sowie den Oberarmen auf und verschwinden kurze Zeit nach dem Absetzen der Hochdosen wieder von selbst.196 Bis die Akne von selbst abheilt, können in Ausnahmefällen bis zu acht Wochen vergehen. Bei den meisten Personen dauert dieser Abheilungsprozess allerdings nur zwei bis drei Wochen.197
Dieses Phänomen wurde bereits in wissenschaftlichen Veröffentlichungen der 1970er-Jahre beschrieben198 und dennoch sind die genauen Mechanismen dahinter bis heute nicht im Detail geklärt. Mehrere Hypothesen wurden dazu aufgestellt. Eine Vermutung lautet, dass B12-Akne bei manchen Menschen durch eine zugrundeliegende Kobalt Sensitivität ausgelöst wird.199 Das Zentralatom von Vitamin B12 ist ein Kobalt-Atom und so werden durch hohe B12-Gaben auch relevante Mengen an Kobalt zugeführt, die bei einer bestehenden Hypersensibilität ein Erklärungsmodell für die Hautreaktion darstellen könnten.
Der bis dato besterforschte und vielversprechendste Hinweis geht jedoch in eine gänzlich andere Richtung. Dieser erklärt die Entstehung der B12-Akne über die Aktivität von Hautbakterien, die durch die Gabe von B12 beeinflusst werden. Wenn in der Haut ein Überschuss an B12 durch hohe supplementierte Zufuhrmengen vorhanden ist, dann reduzieren Hautbakterien der Gattung »Propionibacterium acnes« ihre eigene Vitamin-B12-Produktion und synthetisieren stattdessen entzündungsfördernde Stoffwechselprodukte namens Porphyrine, die wiederum die Entstehung von Akne fördern können.200,201
Die Lösung des Problems lautet in allen Fällen gleich: Sensible Personen mit B12-induzierter Akne sollten hohe orale Dosen an B12 ebenso wie eine intramuskuläre Verabreichung meiden und stattdessen geringe Mengen oral supplementieren oder zu angereicherten Lebensmitteln greifen. Um die bestmögliche Absorptionsrate an B12 bei gleichzeitig geringer Zufuhr zu garantieren, empfiehlt es sich für sensible Personen, die B12-Versorgung durch drei niedrige Einzeldosen anstatt einer hohen Einzeldosis pro Tag zu decken. Wird B12 dreimal täglich zugeführt, genügen bereits geringe Mengen in Höhe von 5 bis 10 µg pro Dosis. Die Aufteilung der B12-Einzeldosen sowie ihre Höhe sollten sich am individuellen Hautbild orientieren und es ist einige Zeit zum Austesten zu veranschlagen.
Verursacht zu viel Vitamin 812 Krebs?
Die Supplementierung mit B ist eine einfache, günstige und sichere Variante, um nicht nur Veganer und Vegetarier, sondern auch ältere Personen und
Menschen mit Absorptionsstörungen optimal mit B12 zu versorgen. Wie die bereits an früherer Stelle erwähnte Framingham Offspring Study zeigte, war die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln und angereicherten Lebensmitteln der sicherste Weg zu einem optimalen B12– Spiegel.202 Damit wäre eigentlich alles gesagt, wenn nicht immer wieder Medienberichte über Studien auftauchen würden, nach denen eine hohe Supplementierung mit Vitamin B12 Krebs verursache. Daher folgen abschließend einige klärende Worte zu Schlagzeilen wie »Krebs: Alarmzeichen Vitamin B12«203 oder »Erhöhte Krebsgefahr bei hohen Vitamin-B12-Werten«.204
Verständlicherweise verunsichern diese Meldungen viele vegan lebende Menschen, die dann vielleicht tatsächlich so weit gehen, auf die wichtige Supplementierung mit B12 zu verzichten. Bereits im Dezember 2013 tauchte eine dänische Studie auf, die erhöhte B12-Werte mit einem erhöhten Krebsrisiko in Verbindung brachte. Diese Untersuchung mit Daten aus unterschiedlichen medizinischen Datenbanken von über 350.000 Personen aus mehr als zwei Jahrzehnten hatte ergeben, dass bei den Probanden mit dem höchsten B12– Serumwert auch ein erhöhtes Risiko für Krebserkrankungen wie Lungenkrebs und einige weitere Krebsarten festgestellt wurde. 205 Die gesamte Studie hat allerdings keine tatsächliche Relevanz für vegan lebende Menschen mit B12-Supplementierung, weil in der Auswertung der Daten die knapp 20.000 Menschen ausgeschlossen wurden, die zur Zeit der Datenerhebung ein Nahrungsergänzungsmittel mit B12 einnahmen. Die Studie hatte also Daten von allen möglichen Personen mit unterschiedlichem Lebensstil sowie deren B12-Status durch die Nahrung ausgewertet.
Da vegan lebende Menschen ohne Supplemente keinen erhöhten Plasmaspiegel an B12 erreichen können, ist nicht anzunehmen, dass sich vegan lebende Personen unter den Probanden befanden. Aber auch für alle anderen Gruppen an Menschen muss die Frage gestellt werden, ob hohe B12-Spiegel tatsächlich das Krebsrisiko erhöhen oder ob umgekehrt nicht vielleicht manche Krebsarten die B12-Spiegel ansteigen lassen. Im ersten Fall wäre tatsächlich B12 ursächlich an der Entstehung des Krebs beteiligt. Im zweiten Fall wäre der B12-Spiegel lediglich ein Biomarker, der im Rahmen einer Krebserkrankung erhöht sein kann, ohne dabei direkte Auswirkungen auf den Krebs zu haben. Als dritte Möglichkeit bestünde auch noch das Szenario, dass hohe B12-Spiegel mit gewissen anderen Faktoren einhergehen (z.B. hoher Verzehr tierischer Produkte), die für sich genommen die wahren Gründe für die Krebserkrankung sein könnten. Denn B12 ist hier erneut nur ein Marker, der ebenfalls damit korreliert.
Es vergingen nach dieser ersten Veröffentlichung knapp vier Jahre ohne derartige Meldungen zu B12 in den deutschen Medien, doch im August 2017 erschienen erneut eine Reihe von Schlagzeilen über eine neue Untersuchung zu Krebs und B12. Die Schlagzeilen lauteten diesmal unter anderem »Vitamin-B-Pillen steigern Risiko für Lungenkrebs«206 oder »Mehr Lungenkrebs durch Vitamine B6 und B12«.207 Ein genauer Blick auf die Veröffentlichung gibt allerdings ebenso schnell Entwarnung für den überwiegenden Teil der vegan lebenden Menschen. Die risikoerhöhende Wirkung – von der ohnehin noch zu belegen wäre, dass sie durch B12 verursacht wurde – trat zum einen ausschließlich bei rauchenden Männern und nicht bei Frauen und männlichen Nichtrauchern auf. Zum anderen erhöhte sich das Risiko selbst unter jenen rauchenden Männern nur bei der Einnahme von hochdosiertem, isoliertem Vitamin B6 und B12 und nicht beim Einsatz eines Multivitaminpräparates, in dem B6 und B12 im Verbund mit anderen Vitaminen eingenommen wurden.208
Der Diätologe Jack Norris zitiert darüber hinaus in seinem Artikel »B12 and Lung Cancer« eine persönliche Korrespondenz mit einem der Autoren der 2017er Studie, die eine Erhöhung des Lungenkrebsrisikos bei der Aufnahme von größeren Mengen an Vitamin-B12-Supplementen verzeichnet hatte. In dieser betont der Mitverfasser der Studie, dass sich aufgrund der Ergebnisse seiner Studie nicht alle Männer Sorge um ihre Nahrungsergänzung mit B12 machen müssen. Wie es auch in der Studie deutlich gemacht wird, betrifft die Risikoerhöhung nämlich nur männliche Raucher, wobei Nichtraucher mit B12-Einnahme kein erhöhtes Risiko aufweisen.209
Außerdem sollte man stets die Gesamtheit aller zu einem Thema veröffentlichten Studien im Blick behalten. Einzelne Studien mit aufsehenerregenden und kontroversen Ergebnissen schaffen es zwar oft in die Schlagzeilen, sind aber dennoch nur ein Teil der Gesamtheit aller Forschungsergebnisse zu einer Thematik. Zu der Gesamtheit an Untersuchungen zählen unter anderem zwei weitere Metaanalysen, welche an dieser Stelle von Interesse sind. Bei einer Metaanalyse handelt es sich um eine Publikation, die eine Reihe von unterschiedlichen Veröffentlichungen zu einem Thema zu Metadaten zusammenfasst und dadurch mehr Aussagekraft als eine einzelne Untersuchung besitzt. 2010 erschien eine ebensolche Metaanalyse, die anhand von Fall-Kontroll-Studien ebenfalls einen Zusammenhang zwischen höheren B12-Konzentrationen im Plasma und der Prostatakrebs-Häufigkeit feststellte.210 Eine Fall-Kontroll Studie ist in der Ernährungswissenschaft ein sehr häufiges Studiendesign, das aber einen sehr großen Schwachpunkt aufweist. Fall-Kontroll-Studien (Case Control Studies) sind Beobachtungsstudien an der Bevölkerung, bei denen rückwirkend (retrospektiv) anhand einer Stichprobe an erkrankten Personen und einer Stichprobe an gesunden Personen Informationen generiert werden können. Problematisch ist hier, dass die Unterscheidung zwischen kausalen Zusammenhängen und nicht-kausalen zusammenhängen nicht immer möglich ist. Genau diese Problematik greifen die Autoren dieser Untersuchung auf und nennen die Möglichkeit einer »Reverse Causality« (auch »Reverse Causation« genannt) als wichtigen Störfaktor dieser und weiterer Veröffentlichungen.
Im Falle der »Reverse Causality«, der »umgedrehten Kausalität (Ursächlichkeit)« im Zusammenhang zwischen B12 und Krebs, wirft einer der Autoren jener Metaanalyse die Frage auf, ob hohe Serumkonzentrationen an B12 tatsächlich das Krebsrisiko erhöhen oder ob Menschen mit Prostatakrebs bedingt durch die Krebserkrankung erhöhte B12-Werte aufweisen.211 Diese Hypothese ist darin begründet, dass in der Untersuchung bei den Prostatakrebspatienten lediglich ein Zusammenhang zwischen hohem Gesamt-B12– Spiegel und dem Auftreten an Prostatakrebs bestand, aber nicht zwischen der Höhe der Holo-TC-Spiegel.212 Wenn aber tatsächlich die Zufuhrhöhe an B12 das Krebszellenwachstum begünstigen würde, dann hätten auch jene Personen mit dem höchsten Holo-TC-Wert ein erhöhtes Krebsrisiko haben müssen. Die Personen mit den höchsten Spiegeln an aktivem B12 (Holo-TC) hatten aber kein erhöhtes Risiko. Diese Beobachtung legt den Rückschluss nahe, dass es sich in diesem Fall tatsächlich eher um eine umgekehrte Kausalität zwischen B12 und Krebs handelt.
Ähnliche Beobachtungen findet man auch bei anderen Krebsarten,213 Leberentzündungen (Hepatitis) und Leberzirrhose durch Alkoholmissbrauch.214 Auch bei diesen Erkrankungen ist der B12-Spiegel im Blut erhöht, ohne dass dieser ursächlich daran beteiligt ist. Dies liegt bei Lebererkrankungen an der Zerstörung von Teilen des Lebergewebes und der dadurch erhöhten Freigabe von B12 aus der Leber in das Blut. Diese zwei Beispiele verdeutlichen, dass eine Aussage wie »Erhöhte Krebsgefahr bei hohen Vitamin-B12-Werten«215 nichts anderes bedeutet, als dass erhöhte B12– Werte ein potenzieller Marker zur Früherkennung mancher Krebsarten sein könnten. Immerhin heißt es in der Schlagzeile der Ärztezeitung richtigerweise »Krebsgefahr bei hohen Vitamin-B12-Werten« und nicht durch hohe Vitamin B12-Werte.
Da nun also auch diese große Metaanalyse keine wirklich endgültige Antwort auf die Fragestellung geben konnte, bräuchte es eine Metaanalyse an aussagekräftigeren Studien, die gezielter zwischen Ursächlichkeit und umgekehrter Ursächlichkeit unterscheiden kann.
Der Goldstandard der Studienplanung ist die sogenannte randomisierte, kontrollierte Studie (Randomized Controlled Trial, RCT), die in der Forschung das nachgewiesen beste Studiendesign darstellt, um auf eine klare Fragestellung eine eindeutige Aussage zu erhalten und den ursächlichen Zusammenhang, die Kausalität, zu belegen. Solch eine Metaanalyse, die insgesamt 18 randomisierte, kontrollierte Studien mit über 75.000 Probanden zusammengefasst hat, erschien im Jahr 2016 und hätte eigentlich genügen müssen, um im darauffolgenden Jahr, bei der Veröffentlichung der 2017er Krebsstudie, die Aufregung zu mildern. In den 18 inkludierten Studien wurden B12-Gaben in Höhe von 20-2.000 µg pro Tag eingenommen und es gab in Summe keine Risikoerhöhung in Bezug auf irgendeine der untersuchten Krebsarten.216 Somit zeigt die Summe der Daten selbst bei großer Vorsicht keinen Grund, die B12-Zufuhr bei veganer Ernährung als potenziellen Risikofaktor für die Krebsentstehung zu betrachten.